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Normale Version: Fischlein stellt sich vor
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Hallo liebe Alle,

jetzt springe ich mal ins kalte Wasser und stelle mich vor. Ich bin 61, verheiratet und habe zwei erwachsene Kinder. Meine Schwester ist 5 1/2 Jahre älter als ich. Sie war schon immer mega schwierig und unsere Mutter hat so manchen Drahtseilakt hinter sich gebracht um meine Schwester zu unterstützen und "auf Spur" zu halten. Unterstützung oder Wissen über psychische Krankheiten gabs in unserer Familie damals nicht. Das Verheimlichen und irgendwie Bewältigen der Schwierigkeiten stand da eher im Vordergrund, die Scham über den unerkannten Wahnsinn in einem dazu noch schwierigen Beziehungsverhältnis der Eltern, das zusätzlich auch keine Unterstützung bot. In der Zwischenzeit hat meine Schwester multiple Hospitalisierungen hinter sich, die erste ernsthafte mit 33, bei der ich aktiv beteiligt war, da ich zu der Zeit auch in den USA war (meine Schwester lebt in den USA). Ihre Diagnose bewegt sich irgendwo zwischen schwerer Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie. Sie lebt wie erwähnt in den USA, worüber ich einerseits froh bin, weil allein geographisch ein Abstand gegeben ist; andererseits ist es schwierig, ihr Hilfe zu organisieren, wenn sie dekompensiert.

Letztes Jahr konnte ich die Hospitalisierung meiner Schwester von Deutschland aus in die Gänge bringen. Unsere beiden Eltern sind 2019/2020 binnen vier Monaten beide verstorben, es war damals schon klar, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, wann meine Schwester ihren Halt verlieren würde, zumal sie schon immer mit ihren Medikamenten auf Kriegsfuß steht. Von vielen wurde mir geraten, dass ich mich nicht einmischen soll, dass ich auf die Distanz Deutschland - USA eh nichts bewirken kann. Der Gedanke, dass meine Schwester unter Umständen einfach auf der Straße verrecken würde, hat mich nicht losgelassen, das aber nicht unbedingt, weil wir einmal ein unbeschreiblich gutes Verhältnis und persönliche Nähe hatten; über viele Umwege und einfach auch nur glückliche Zufälle konnte ich dann von weitem doch noch eine Intervention ankurbeln. Zur Zeit hat sie endlich (wieder) eine Sachwalterin und wird im Februar nach langem Psychiatrieaufenthalt und eng betreutem Wohnen in eine Art "selbstständigere" Wohngruppe ziehen. Ich telefoniere nur sehr selten mit ihr, da ich leider zu einem fixen Bestandteil ihres psychotischen Systems geworden bin, nebst der Tatsache, dass sie auf mich schon seit unserer Kindheit extrem eifersüchtig war. All das ist sehr anstrengend, weil sie mich für alles verantwortlich macht und leider nicht die Fähigkeit besitzt, ihr Verhalten in irgendeiner Form zu reflektieren. Ich bin mir nicht sicher, ob in unserem Kontakt jemals wieder eine Art Gespräch von Herz zu Herz möglich sein wird.

Das, was mich persönlich momentan am meisten beschäftigt, ist die Erkenntnis, dass ich in meiner Kindheit/Jugend durch die allgegenwärtigen Schwierigkeiten mit meiner Schwester eigentlich traumatisiert bin. Bis vor kurzem war ich mit der "all das ist zu schaffen und zu bewältigen Strategie" beschäftigt. Ich bin selbst Psychotherapeutin, ein Lebensplan, auf den ich sicherlich vom Ursprung meiner Ursprungsfamilie gekommen bin. Da ging es primär um Wissen einzuholen, das Wissen wie in Akutsituationen zu handeln ist, das Wissen über die Zeichen einer beginnenden Dekompensation, ich habe über 10 Jahre selbst in der Psychiatrie gearbeitet - man sollte meinen, ich hätte es in Bezug auf das eigenen Trauma besser wissen sollen....letztendlich ging es primär darum, das Gefühl der Kontrolle nicht zu verlieren, die ja letztendlich eh nichts anderes als eine Illusion ist. Wieso ich so lange gebraucht habe um das zu verstehen, ist mir heute ein Rätsel.

Die Erkenntnis kam erst nach dem Tod unserer Mutter, die schon seit einigen Jahren vor ihrem Tod den Kontakt zu meiner Schwester nur auf Sparflamme hielt, weil sie selbst einfach keine Kraft mehr hatte. Also war ich irgendwie das Bindeglied, wenn es zu Psychiatrieaufenthalten kam, hab ich mit den Ärzten geredet, Geldüberweisungen für sie organisiert etc. Ich hätte mich auch jederzeit vor unserer Mutter gestellt um sie vor den Attacken meiner Schwester zu schützen. In den kurzen Wochen ihres Sterbens hat mich unsere Mutter inständig gebeten, ich möge meine Schwester von ihr fern halten, mit der Erklärung, dass sie jetzt all ihre Kraft zum Sterben benötigen würde. Da saß ich so richtig zwischen den Stühlen, weil ich für meine Schwester mir sehr gewünscht hätte , dass sie noch mit unserer Mutter sprechen hätte können, aber letztendlich bin ich dem Wunsch unserer Mutter gefolgt.

Ich sage mir oft, dass all mein Lernen und die Dinge, die ich gemacht habe um an mir selbst zu arbeiten, doch nicht umsonst gewesen sein können. Bis vor dem Tod unserer Eltern hatte ich eine kleine psychotherapeutische Praxis, dann kam Corona und Stillstand mit der Frage, was und wozu ich das überhaupt alles mache - so ne richtige Sinnkrise, aus der ich mich (glaube ich) langsam wieder raus arbeite. Im Zuge dessen stolpere ich über unglaubliche Selbstzweifel, über innere Hürden in die Sichtbarkeit zu kommen - auch und vor allem im Kontext die Vergangenheit zu benennen und so zu beschreiben, wie sie für mich tatsächlich war und zum Teil immer noch ist. Das, was einmal innere Struktur/Sinn war, zerfällt quasi vor meinen Augen und der eigentliche Wahnsinn wird immer klarer. 

Damit möchte ich mich erst einmal vorstellen und so einen Schritt in eine "wörtliche" Sichtbarkeit machen.
Liebes Fischlein,
vielen Dank für deinen Sprung ins kalte Wasser. Ich hab dieses ungefähr zu Pandemiebeginn auch gewagt und bin bis heute sehr froh darüber.
Unsere Geschichten gleichen sich in vielen Punkten und sich doch anders... Die Geschwistergeschichten sind oft ziemlich ähnlich, aber gleich sind nie... Uns alle eint, dass wir die Situation irgendwie aushalten müssen, egal wer wir sind, wie alt wir sind, woher wir kommen, usw.
Daher war ich sehr froh als ich dieses Forum hier fand. In der Zwischenzeit fand ich auch den Weg zu den "Mutmachleuten - www.mutmachleute.de" und in die Selbsthilfe (LapK Bayern). All das tat mir persönlich sehr gut.
Du bist vom Fach und trotzdem bewegen dich dieselben Themen wie mich und wohl die meisten Geschwister. Wir wollen alle nur das Beste für unsere Geschwister, wünschen uns manchmal an ihrer Stelle zu sein, verbinden alle Familienmitglieder und verlieren uns, wenn wir nicht aufpassen, dabei selbst.
Traumatisierungen aus dieser extremen Situation kenne ich auch. Auch Sinnkrisen hab ich schon gehabt und irgendwie überwunden. Ich hab zum Glück gelernt viel mehr auf mich selbst, meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu achten. Zwischendrin verschwamm vieles zu einem nur sehr schwer zu durchdringenden Brei aus allem möglichen, aber nicht mir.
Hab mir selbst Hilfe gesucht, auch in Form von Gesprächstherapien. Konnte mich dann mit dieser Hilfe immer wieder herausziehen und dennoch fühlt es sich an wie ein immerwährender Kampf für meine Schwester und für alle und vor allem für mich. Heute kann ich sagen, ich bin glücklich. Es gibt immer noch Tage wo mich Gedanken und Gefühle nach unten ziehen und ich weiß nicht woher und warum. Diese Tage sind aber weniger geworden und ich lebe bewusster und stelle mich selbst in den Mittelpunkt so gut ich kann bei allem was ich tue und gleichzeitig kann ich für meine lieben Mitmenschen da sein. All das ist ein großes Glück. Ich glaube, dass mir die Gespräche innerhalb der Selbsthilfegruppe am meisten gebracht haben, damit es heute so ist wie es ist, aber auch mein "coming out" durch die Mutmachleute, das hat mir sehr viel gebracht.
Ich wünsche dir, dass du einen super Weg für dich und deine Familie findest und dich, vielleicht auch mit Hilfe, aus dem Loch ziehen und gestärkt daraus hervorgehen kannst.
Liebe Grüße,
werwoiss
Vielen Dank für Deine Antwort !!!