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Normale Version: Wahnsinn um drei Ecken
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Hallo,

ich möchte gerne über das Buch "Wahnsinn um drei Ecken" diskutieren. Hat jemand Lust dazu?

Mich beschäftigen ein paar Fragen, vielleicht hat ja jemand eine andere Meinung oder eigene Gedanken/ Fragen dazu?

- Was macht es so schwer, das zehnte Ostern oder Weihnachten vielleicht einfach mal so zu planen und durchzuführen, wie "die Gesunden" es haben möchten, und von dem Erkrankten eine Anpassungsleistung zu erwarten? Bzw. wieso sollte ein erkrankter Mensch nicht auch mal enttäuscht sein "dürfen", dass nicht alles so läuft, wie er oder sie sich das wünscht - gehört das nicht zum Leben dazu?

- Was sind das für Mechanismen, die Mütter dazu bringen, sich beispielsweise in der eigenen Wohnung ins Wohnzimmer ausquartieren zu lassen, sich extrem schlecht behandeln zu lassen und fest davon überzeugt zu sein, dies helfe ihrem erkrankten Kind oder sie tut damit etwas Gutes? Und wie können sie gleichzeitig ausblenden, was das mit den sogenannten gesunden Geschwistern macht, die dies mitansehen müssen?

- Warum kommen Töchter im Zusammenhang mit der Erkrankung in die Rolle der Beraterin ihrer Mutter? Was ist das eigentlich für eine Rollenverschiebung? Vor allem, wenn die Töchter eigentlich selbst darauf angewiesen sind, Fürsorge und Schutz durch die Mutter zu erhalten?

Liebe Grüße,
Anna
Hej Anna !

Ich habe leider das Buch nicht gelesen und kannte es auch nicht bis ich deinen Betrag gelesen habe. Aber die Fragen die du stellst, sprechen mich an. Ich habe mir ähnliche immer wieder gestellt und diese waren immer wieder ein Streitpunkt mit meiner Mutter bzw. haben immer wieder zu Brüchen geführt.
Ich würde mich über einen (Erfahrungs-)Ausstausch freuen.
LG
Hallo Anna,

auch ich habe das Buch leider nicht gelesen, finde deine Fragen aber interessant.

Zu einer möchte ich heute etwas antworten:
Was macht es so schwer, das zehnte Ostern oder Weihnachten vielleicht einfach mal so zu planen und durchzuführen, wie "die Gesunden" es haben möchten, und von dem Erkrankten eine Anpassungsleistung zu erwarten? Bzw. wieso sollte ein erkrankter Mensch nicht auch mal enttäuscht sein "dürfen", dass nicht alles so läuft, wie er oder sie sich das wünscht - gehört das nicht zum Leben dazu?

Aus meiner Erfahrung kann ich berichten, dass es dann, wenn wir Weihnachten oder Ostern so gefeiert haben wie wir es uns gewünscht haben, alles im Chaos endetet. Einmal stellten wir einen Weihnachtsbaum auf, obwohl mein Bruder keinen wollte. Es endete so, dass er den Baum nahm, die Balkontür öffnete und den Baum rauswarf. Auch sonst gab es meist Geschrei, Aggression oder ähnliches wenn wir etwas so durchführen wollten wie wir es uns wünschten. Man war immer in "Hab Acht" Stellung.
Aber ich finde das nicht richtig, ich habe mich oft tyrannisiert gefühlt von meinem Bruder.
Was habt ihr für Erfahrungen? Wie kann man damit umgehen?
Letztes Weihnachten kam mein Bruder gar nicht zu uns, das war sehr entspannt. Irgendwie tat er mir leid, dass er alleine in seiner Wohnung saß aber für meine Eltern und mich war es um einiges ruhiger so.

Liebe Grüße und viel Kraft an alle Kümmerer
Bigi
Liebe Anna,

ich habe das Buch gelesen, und muss sagen es hat mich mitunter verstört zurückgelassen. Manchmal ist mir die Schreibweise zu drastisch, zu offensiv, vielleicht auch einfach zu ehrlich. Denn was in dem Themengeflecht Familie und psychische Erkrankung immer wieder deutlich wird: Hier wird viel geschwiegen, weggelassen und weggeschaut. Denn hinschauen, Ärgernisse offen ansprechen und sich miteinander auseinanderzusetzen, sei es mit dem Erkrankten oder unter den Angehörigen, ist schwer und manchmal belastend.
Meine Erwartung an das Buch war womöglich auch eine falsche. ich habe mit einer ratgebenden Lektüre gerechnet.

Zu deiner letzten Frage möchte ich noch ein paar Gedanken teilen, der anteilig eigener Erfahrung entspringt. Warum werden Töchter zu Beraterinnen von ihren Müttern? Ich glaube, dass dies der Verunsicherung der Mutter entspringt. Sie sucht Halt, wo auch immer. Die Situation entzieht den Boden unter den Füßen. Und wenn die Tochter oder auch der Sohn, die/der gesund ist, sich ebenfalls inhaltlich mit der Erkrankung und seinen Folgen beschäftigt, entsteht hier ein Austausch zwischen Eltern und Kind. Die Elternperson erfährt dabei vielleicht, dass das Kind genauso viel weiß, wie sie selbst als Erwachsener, dass es ebenso viel darüber nachdenkt und vielleicht auch gute Ideen hat. Das setzt die Eltern in ihrer Hierarchie herunter, erhebt die Kinder und führt beide irgendwann auf Augenhöhe. Ich hab dann auch noch begonnen Psychologie zu studieren und bin seither die Expertin für den Sohn meiner Mutter, sprich meinen Bruder.
Auch habe ich das Gefühl, dass dieses Szenario besonders schnell in Gang kommt, wenn ein Elternteil alleinerziehend ist. Denn hier gibt es außer dem alleinigen Elternteil keinen weiteren Zeugen von der Erkrankung und seinen Folgen. Die Geschwister werden automatisch zu Gesprächspartnern, rutschen schnell auf Augenhöhe, vor allem, wenn es ihre geistige Reife zulässt.

Gutheißen tue ich das nicht. Aber so kann ich es mir erklären.

Herzliche Grüße
Jana
Liebe Alle,

ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber jetzt steht es definitiv auf meiner Leseliste. Die Fragen, die ihr stellt beschäftigen mich seit Jahrzehnten und eure Antworten berühren mich.

Meine Gedanken dazu ... ja, die Verunsicherung der Mutter ist sicher ein Antrieb, den Austausch mit dem "gesunden" Kind zu suchen und es einzubinden, sicher auch ein Gefühl der Einsamkeit mit der Verantwortung und gleichzeitig eine fast aggresive Forderung nach Unterstützung in einem Prozess, der im Innen nicht lösbar und nach aussen nicht mitteilbar ist. Vielleicht ist da auch der Wunsch nach "normaler" Beziehung innerhalb des Systems. Gleichzeitig mag die liebevolle Zuwendung des "gesunden" Geschwisters an das "kranke" ein Hebel sein, über den Einfluss genommen werden kann, um das "kranke" zu stützen.

So habe ich es erlebt. Im Gepäck bleibt mir, gut 30 Jahre nach den ersten Krisen - und das ist fast nicht abzuschütteln - eine völlig überzogene Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, gepaart mit einer unendlichen Frustrationstoleranz und Bereitschaft "Selbstunwirksamkeit" zu akzeptieren, weil mein Gegenüber "nichts dafür kann".
Intellektuell ist mir schon klar, dass es für die Erkrankung meiner Schwester keine unmittelbare Verantwortung gibt, die ich zu tragen hätte und ich kann das auch inzwischen recht nüchtern betrachten, aber emotional falle ich immer wieder auf diese Konditionierung rein.

Wir sind im Leben in solchen Strukturen seismopraphische Experten geworden, werden Psychologen, Pfleger, Kümmerer, um unser Leben und das unserer Lieben zu verstehen und zu "Selbstwirksamkeit" zu finden, zu helfen - sogar vielleicht, um die beschädigten Beziehungen zu uns selbst, zu unseren Geschwistern und zu unseren Eltern zu "heilen".
Ich würde nach dem Lesen der Berichte hier sagen, das geht vielen hier so?

Herzliche Grüße,
Steffi
Guten Tag,
gleich nach Erscheinen hatte ich das Buch gelesen, aber Eure Diskussion erst heute mitbekommen, sorry.
Das Buch ist natürlich alles andere als ein Ratgeber, auch wenn man bzw. frau viel daraus lernen kann  -  nämlich über die Verwirrungen, Irrungen, Verletzungen, Vermeidungen, Ängste, Wut etc. etc. zwischen zwei verbundenen Menschen (Tochter und Mutter), wenn "der Dritte im Bunde" übergroß bzw. übermächtig in dieser Dreierbeziehung wird - indem er psychisch erkrankt und damit das Leben der Mutter und Schwester ordentlich durcheinander rüttelt.
Bitte legt die obigen Worte nicht auf die Goldwaage, es sind recht oberflächliche Betrachtungen - der Kern: Die beiden Autorinnen haben großen Mut bewiesen, die Dynamik zwischen ihnen Beiden und in Beziehung zum Dritten, dem Sohn und Bruder, so schonungslos den Lesern mitzuteilen.
Es gibt viele Stellen in dem Buch, die mich zu Kritik und Diskussion reizen, aber das würde ich gern mit den oder einer der Autorinnen - gern auch öffentlich - unmittelbar tun, nicht in Form eines schriftlichen Beitrages.
Aktuell schreibe ich an einer Zusammenfassung der vorliegenden Literatur und der mir zugänglichen Gesprächstexte mit Geschwistern; in dem Zusammenhang gehe ich auf einige, aber nicht die für mich kritischen Punkte ein.
Ich bin mir sicher: Es wird eine Gelegenheit zum Austausch im Rahmen einer Gesprächssituation geben.
Bis dahin: Dank an die Autorinnen für die tiefen Einblicke.
Reinhard