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Summer - Summer - 05.01.2018

Hallo,

Wegen eines aktuellen Ereignisses habe ich mal wieder mehr oder weniger planlos das Internet durchforstet und mich sehr gefreut dieses Forum zum Austausch zu finden.
Ich bin Ende 30, verheiratet, lebe im Westerwald und arbeite in Mittelhessen im sozialen Bereich.
Bei meiner Schwester (50 Jahre alt) wurde vor gut 30 Jahren eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Im Rückblick hörte damit meine durchaus glückliche Kindheit auf. 
Der erste Aufenthalt in der Psychiatrie war für meine Schwester gut, sie konnte im Anschluss erfolgreich eine Ausbildung abschließen, hat ein selbstständiges Leben geführt, war beruflich erfolgreich. Allerdings hat sie sich irgendwann dazu entschieden, die Medikamente abzusetzen, und die Symptome kamen wieder. Das hat sich in den letzten 30 Jahren mehrmals wiederholt und wurde von mal zu mal schlimmer. Anfangs ist es meiner Schwester noch gelungen wieder Fuß zu fassen, neue Jobs zu bekommen.
Irgendwann ist sie wieder endgültig bei meinen Eltern (in die Einliegerwohnung) eingezogen. Mittlerweile ist sie seit gut 10 Jahren arbeitslos und bezieht Hartz 4.
Als damals 11-jährige habe ich nicht ansatzweise verstanden, was da passiert. Meine große Schwester, zu der ich immer aufgeschaut habe, bei der ich mich geborgen fühlte, ist völlig ausgerastet. Sie war wahnsinnig aggressiv, gegenüber meinen Eltern, später auch gegenüber mir, gegenüber allen. Sie hatte eine große Zerstörungswut. Ich bin in der Zeit in der wir gemeinsam im Haus meiner Eltern lebten aus meinem Zimmer ins Dachgeschoss umgezogen und habe in der Regel nachts die Tür abgeschlossen, aus Angst. Ich zucke nach wie vor zusammen, wenn eine Tür mal etwas lauter ins Schloss fällt.
Meine Eltern waren und sind mit der Krankheit überfordert, wollten das lange nicht wahrhaben und vor allem nichts „nach außen“ dringen lassen. Es ist müßig zu überlegen woher das kommt, Theorien habe ich viele, beide waren die ersten Akademiker ihren Familien, haben viel getan und entbehrt für ihren Status, mein Vater hat dafür sein Heimatland verlassen. Meine Mutter wurde exkommuniziert, weil sie einen Moslem heiratete und ihre Kinder nicht taufen ließ. 
7 Jahre nach dem Ausbruch der Schizophrenie meiner Schwester, kam unser älterer Bruder mit 35 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ich war damals 18, stand kurz vor dem Abitur. Von dem Moment an fühlte ich mich völlig allein und hatte zum ersten Mal eine depressive Episode.
Jetzt, 20 Jahre später, denke ich ich habe für mich gute Wege gefunden mit unserer Familiengeschichte gut umgehen zu können. Ich habe in den Jahren viel über die Krankheit gelernt, hatte oft die Hoffnung durch mein erworbenes Wissen meiner Familie helfen zu können, aber musste schmerzlich lernen, dass dazu mehr nötig ist, als nur mein Wille.
Das wichtigste für mich war und ist nun Abstand. Ich habe zu meiner Schwester nur Kontakt, wenn ich meine Eltern besuche und das ist eher selten. Das führt immer mal wieder zu Schuldgefühlen bei mir. Meine Eltern sind mittlerweile 80, ich glaube es geht ihnen nicht gut. Meiner Schwester geht es aktuell auch nicht gut, sie hat leider im Internet meine Büronummer herausgefunden und mir in der Weihnachtszeit dort mehrfach auf den AB „gesprochen“. Da ich selbst noch Urlaub habe, hat das in meiner Abwesenheit eine Kollegin abgehört und ist jetzt etwas verstört. In dem Moment, als sie mir davon erzählte, waren plötzlich alle Gefühle wieder da: Angst, Scham, Überforderung, Wut, Hilflosigkeit. 
Jetzt hat es mich im Berufsleben eingeholt, hier fühlte ich mich bisher absolut sicher. Ich denke schon, dass ich gut mit dem Ereignis umgehen werde. Allerdings war ich völlig überrascht, wie urplötzlich alles wieder da war, Momente, Situationen und vor allem die damit verbundenen nicht schönen Gefühle.
Ob das wohl irgendwann aufhört? Ich weiß nicht…und irgendwie gehört das alles zu mir und macht mich aus.
Wow, ganz schön viel Text, für mal eben vorstellen [Bild: https://forum.geschwisternetzwerk.de/images/smilies/wink.png]
Ich finde es super, dass ihr dieses Forum ins Leben gerufen habt. Zu wissen, dass es Menschen gibt, die das, was man erlebt hat, wirklich nachempfinden können, tut gut.
Danke!


RE: Summer - Reinhard - 06.01.2018

Liebe Summer,
Dich hat es offensichtlich besonders "hart erwischt": Studien belegen, dass insbesondere jüngere Schwestern besonders leiden, vor allem, wenn sie selbst noch jung sind. Über genau diese reichlich abstrakt daher kommende Information schilderst Du uns konkret, was es bedeutet hat und noch heute, immer wieder (hoffentlich nicht andauernd) bedeutet. Und dann noch der Tod Deines Bruders!
Viele von uns berichten über Scham, Schuld und Überforderung - wobei es für Schuld keine Veranlassung gibt, Scham - wenn sie nicht von außen verstärkt wird - als subjektives Gefühl verarbeitet werden kann (wem sag ich das? - aber sie kommt immer wieder hoch, auch grundlos), aber Überforderung ist ein nicht zu leugnendes Faktum.
Ich meine, die Überforderung (mehr als nur ein Gefühl) müssen wir möglichst frühzeitig angehen.
Konkret: Deine Eltern sind bereits alt, wahrscheinlich treibt Dich die beängstigende Erwartung von vielen von uns um: "Wann werde ich in die Verantwortungsübernahme gedrängt - von außen, oder weil ich nicht anders kann (obwohl ich es eigentlich gern vermeiden würde", was absolut nachvollziehbar ist!)
Ich weiß nicht, ob ich damit richtig liege. Wenn ja hast Du etwas vielen anderen Geschwistern voraus: Du bist im sozialen Bereich tätig, da findest Du ggf. leichter die Wege zu den professionellen Hilfen, die hilfreich sein könnten.
Das mit Deinen Kolleg*innen bekommst Du mit Sicherheit hin!
Ich drücke Dir die Daumen und würde mich freuen, wieder von Dir zu lesen.
Alles Gute, liebe Grüße
Reinhard