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Mein schizophrener Bruder, sein Vermächtnis und Erkenntnisse über ‚das Sein‘ - Druckversion

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Mein schizophrener Bruder, sein Vermächtnis und Erkenntnisse über ‚das Sein‘ - Helge - 20.12.2020

Ich bin jetzt 63 Jahre alt und frage mich oft, warum ich die Zeit mit meinem laut Diagnosen schizophrenen Bruder Ingo, der etwa mit 17 Jahren offenkundig erkrankte, ich ging gerade in die erste Schulklasse, nicht als Albtraum und sehr belastend in Erinnerung habe. Hierzu hat sicher beigetragen, dass mein Bruder zwar oft schön aggressiv war, aber wir nie den Eindruck hatten, dass er uns gegenüber handgreiflich würde und er lebte später über viele Jahre mit einer „gesunden“ Frau zusammen. Abgesehen davon und dass man sicher vieles verdrängt und im Rückblick durch die berühmte rosa Brille sieht, fällt mir bei näherem Nachdenken ein Grund auf, weshalb ich die vielen Jahre mit ihm, zu weiten Teilen in einer Wohnung, nicht nur als traurige Belastung empfand: Es gab mit ihm auch viele schöne und anarchische Erlebnisse, die den Alltag aufmischten und bunter machten. Oft kam man sich vor wie in einer amüsanten Theatervorstellung, in der man Zuschauer und Akteur zugleich war. Auch habe ich durch ihn vieles gelernt, was keine Schule oder Universität bieten kann, nämlich Einsichten in die menschliche Psyche und in die Irrationalitäten unserer „Zivilisation“. Hätte ich wählen können: ein Normalobruder ohne all diese Erfahrungen und mein schizophrener Bruder ohne diese Erlebnisse, so hätte ich mich neben brüderlicher Solidarität auch ganz „egoistisch“ für die zweite Variante entschieden. Ich war auch insofern „privilegiert“, weil mein Vater bis zum Ende seines Lebens letztlich ein überzeugter Nazi war, was fast täglich für reichlich Gesprächsstoff sorgte und v.a. angesichts der Shoa für mich einen historischen Markstein für geisteskranke Verhaltensweisen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene darstellte. So war ich, wie der Ökonom zu sagen pflegt, auf der Mikro- und der Makroebene bestens bedient.

Was die bunt-karnevaleske Aufmischung des auch in den 1960er Jahren doch noch recht biederen Alltags betrifft, kann ich mich an viele schöne, witzige und erhellende Situationen erinnern, die dazu führten, alle gesellschaftlichen Aspekte auch unter einem theatralischen Inszenierungsaspekt zu sehen. Nicht unerwähnt sollte hier die stattliche Erscheinung meines Bruders sein, der auch viele ausgesprochen hübsche Frauen anzog, die sich sicher auch durch sein charmant-verführerisches Auftreten bezirzen ließen. In einem Fotoalbum habe ich unlängst noch einmal die Galerie dieser edlen weiblichen Erscheinungen bewundert. Dabei fiel mir auch wieder ein, dass ich ihm unseren Wellensittich, wir tauften ihn Hansi, zu verdanken habe, den er bei einem Winterspaziergang fachkundig trotz hohen Schnees einfing.

Über die sehr dünne Decke der Rationalität in unserer Gesellschaft habe ich durch meinen Bruder unschätzbares im zarten Alter gelernt. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in Wiesbaden einmal zur Filiale einer Bank pilgerten, von der er einige zehntausend DM als Kredit für ein mir nicht mehr erinnerbares Projekt beantragte. Er hatte einen Aktenkoffer mit, da er wohl meinte, das Geld gleich in bar mitnehmen zu können. Meine Aufgabe war es, hinter ihm in einem ganz bestimmten Abstand zu gehen und zu melden, falls wir von hinten verfolgt würden (er sicherte selbst nach vorne ab). Ich wurde mehrmals korrigiert, da der Abstand zu kurz sei und das auffallen könnte. Ich war mir damals als Knirps nicht so ganz sicher, wie „verrückt“ diese Aktion war. Jedenfalls kam mein Bruder freudestrahlend aus der Bank heraus, da er die dortigen Beschäftigten meiner Erinnerung nach völlig überzeugte und sie den Kredit zusagten.

In Highphasen gab es scheinbar keine Grenzen für ihn und er wirkte ultraüberzeugend. Ich war damals beim CVJM und eines Tages tauchte mein lieber Bruder dort auf. Er hatte immer einen Faible für die letzten Dinge und Fragen und studierte in seiner Jugend intensiv ein Buch über die Weltreligionen. Er gründete sogar eine neue Religion, die er unter „Kirche und Kirsche“ zusammenfasste. Seine Ausführungen hierzu waren natürlich völliger Unsinn, aber doch auch irgendwie ein in sich geschlossenes System. Als er beim CVJM aufkreuzte, war gerade Jungschar. Es war nicht recht klar, warum er da auftauchte. Jedenfalls entwickelte sich die Situation so, dass er einen kleinen Vortrag über Sinn und Zweck des christlichen Glaubens halten durfte. Es war ein fulminanter Auftritt, der Gruppenleiter und wir Jugendliche (mir war natürlich auch mulmig zumute) waren begeistert. Ich würde fast so weit gehen, dass Jesus und seine Apostel das kaum sehr viel besser hinbekommen hätten. Hätte er behauptet, der Heiland persönlich zu sein: einige Anwesende hätten es geglaubt. Man hält es dann auch für möglich, dass geistig wirklich Kranke selbst in Demokratien an die Macht kommen können. Ich habe damals „gelernt“, dass ein knackiger Auftritt bis zum Bluff magische Wirkungen erzielen kann. Das führte dazu, gesellschaftlichen Ereignissen, Institutionen und Personen nicht allzu hohe Rationalität zu unterstellen. Nicht zuletzt in der großen Finanzkrise ab 2007 war dies eine große Hilfe, um den - wie ein Nobelpreisträger es ausdrückte- „irrationalen Überschwang“ in seiner ganzen Breite und Tiefe zu erfassen.

Tief schockierte meinen Bruder übrigens auch das zentrale Symbol des Christentums, den am Kreuz leidenden oder gestorbene Jesus. Er fand es grausam, wie man so mit Menschen umgehen könne und kaum begreiflich, dass sich eine Religion das Kreuz (eigentlich ja ein Folterinstrument) als Kennzeichen aussuchte. Er hatte nur begrenzte psychische Abwehrkräfte gegenüber solchen Grausamkeiten. Bei mir ist das in gewissen Grenzen ebenso. Ist es nicht eigentlich „normal“, solche Quälereien emotional belastend zu empfinden und sich seinen gemächlichen Alltag durch Gedanken daran stören zu lassen? Als krank hätte dann zu gelten, dass wir zwar - um nur ein Beispiel zu nennen, man hätte auch Guantanamo anführen können - über die Folterungen in syrischen Gefängnissen, über die gerade ein deutscher Inhaftierter berichtete, der freigekauft wurde, Bescheid wissen, aber dennoch ruhig schlafen können.

Die Bankgeschichte und solche Auftritte in Highphasen beeindruckten mich tief, da sie zeigten, wie leicht Menschen zu beeindrucken und in gewissem Sinne zu täuschen sind und wie wenig sie in der Lage oder bereit sind, ihr Gegenüber etwas tiefsinniger einzuschätzen. Seine Jesuskomponente verband sich mit empathisch-sozialen Eigenschaften. Ein Highlight war zur Weihnachtszeit seine über mehrere Jahre erfolgte Sammelaktion von Süßigkeiten, Mandarinen usw. für Einsitzende im Knast. Er marschierte zu den Supermärkten und bat - seiner Zeit hierin voraus -, abgelaufene und nicht abgelaufene Produkte kostenlos zur Verfügung zu stellen. Diese stapelten sich dann (so furchtbar viele waren es letztlich dann doch nicht) in unserer damals nicht allzu großen Wohnung und wurden in Tütchen mit Weihnachtsmotiven gesteckt und dann zu den entsprechenden Institutionen gebracht. Uns wunderte, dass sich eine wirklich gut schmeckende Schokolade nicht in den Tüten wiederfand. Diese hatte er während des Packens selber aufgegessen.

Mein Bruder war auch ein sehr politischer Mensch. Über Jahrzehnte verfolgte er das Tagesgeschehen. Im Unterschied zu den meisten damaligen und heutigen Zeitgenossen ließ er Ereignisse und Bedrohungen emotional an sich heran, aus Sicht seiner psychischen Gesundheit muss man wohl sagen: zu nah heran. Beim Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ängstigte er sich sehr und befürchtete einen Weltkrieg. Lag er mit diesen Befürchtungen im Rahmen des Ost-West-Konflikts so falsch? Wir wissen heute, dass die Weltgemeinschaft sich öfters am Rande eines Atomkrieges befand, mehrmals durch Fehlalarme, die zumindest zwei Mal nur durch einsame Entscheidungen russischer (Unterseeboot)Kommandanten verhindert wurden, die sich nicht an die Regieanweisungen hielten. Wenn psychisch kranke oft eine Hypersensibilität aufweisen, dann kennzeichnet den Durchschnittsmenschen ein zu dicker Schutzpanzer. Sind (über)ängstliche Menschen daher nicht auch wertvoll als Sensoren, so wie nervöse Tiere vor Ausbruch einer Flutwelle oder eines Vulkanausbruchs zunehmend als wertvolle Warnsignale erkannt werden?

Neben solchen - wie mir scheint, sachlich nicht unbegründeten - Angstattacken hat er auch sehr treffende Beurteilungen zum sonstigen politischen Tagesgeschehen abgegeben. Auch beim großen (Familien)Thema des Nationalsozialismus hat er als der Vernünftige und mein (geliebter) Vater als der wahnsinnig Danebenliegende zu gelten. In seinen schlimmsten Psychosephasen ging es, wie mir mein Bruder erzählte, auch um die Grauen der Naziherrschaft. Mich persönlich hat dieser Teil der deutschen Geschichte nachhaltig geprägt und er ist ein bis an mein Lebensende nachhaltiger Schmerz. War die Zeit des Nazismus nicht eigentlich für alle Beteiligten und familiär involvierten zum Verrücktwerden? Hat sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht durch eine fast lückenlose Ausklammerung des Vergangenen ausgezeichnet? Liegt darin nicht ein kollektiver Verdrängungswahnsinn? Sind psychische Besonderheiten und Krankheiten nicht insofern wertvoll, als sie Charakteren formt, die der ignoranten Masse den Spiegel vorhält. Nehmen wir das Beispiel von Greta Thunberg, die wohl Asperger hat. Unzweifelhaft hat sie einiges bewegt und zur Sprache gebracht und nicht zuletzt die Fridays-for-Future-Bewegung inspiriert. Sie ist immun gegen jegliche Form des Ökobluffs.

Nach meinem durch meinen Bruder Ingo geschärften Eindruck gibt es, wie bereits angedeutet, sowieso in jedem Menschen und in allen Gesellschaften ein latentes, potentiell hohes Maß an Geisteskrankheit, das bei den „Kranken“ nur stärker und unverstellt zum Ausdruck kommt. In den 1970er Jahren wurde v.a. im Gefolge der Studentenbewegung die These vertreten, dass Schizophrenie, mansch-depressive Erkrankungen u.a. ausschließlich familien- und umweltbedingt sind. Diese These lässt sich in dieser starken Variante sicher nicht halten, aber eine Teilwahrheit ist wohl dennoch enthalten.

Es trifft doch zu, dass unsere Gesellschaften beim Klimawandel ein schizophrenes double-bind auszeichnet: Einerseits werden das Pariser Abkommen verabschiedet, hehre Ziele beschlossen, sehr komplexe Emissionshandelssysteme gezimmert, allerorten „Klimaneutralität“ versprochen und gleichzeitig Flughäfen (aus)gebaut, Autobahnen erweitert und im Wirtschaftswachstum nach wie vor das einzig vernünftige Makroziel gesehen. Ich schreibe gerade ein Buch zur Klimapolitik und bin immer wieder schockiert, wie unvermittelt die Erkenntnis der Klimakrise, die aufgestellten Ziele (2-Grad) und die gegenwärtigen Verhaltensweisen und Entscheidungen auseinanderklaffen. Bringen Schizophrene nicht diese Krankheit der Gesamtgesellschaft auf den Punkt und werden nicht einige junge Menschen psychisch krank durch dieses widersprüchliche. Gas geben und gleichzeitige Schubumkehr? Mein Bruder hat auf jeden Fall bewirkt, dass ich diese Widersprüche nicht unter den eigenen Psychoteppich kehren kann oder will.

Ein schwerer Schlag in mein Vertrauen in anerkannte gesellschaftliche Rollen und Institutionen erfolgte, als mein Bruder sich in den städtischen Kliniken in Wiesbaden befand, er raus wollte, aber formal nicht aufgehalten werden konnte. Ich bin dann mit meiner damaligen Freundin hingedüst, um ihn zum Dableiben zu bewegen. Es war von bleibendem Eindruck, dass die Mitkranken sehr beruhigend und gut sachlich auf ihn einwirkten. Dann gab es Anwesende, die Öl ins Feuer gossen und sich eskalierend und ungeschickt verhielten. Wir baten sie, sich doch etwas mehr zurückzuhalten, was sie ablehnten. Es stellte sich heraus, dass es sich um die Gruppe der Ärzte handelte. Der Versuch, ihn zum Bleiben zu motivieren, misslang.

Etwas allgemeiner und pointiert ausgedrückt habe ich durch meinen Bruder eine Haltung der „aristokratischen Distanz“ einzunehmen gelernt. Allen gesellschaftlichen Normen, Belohnungen und Gebräuchen hat man dann eine (un?)gesunde Distanz gegenüber. Ich halte eine solche Perspektive und Menschen, die Kontrapunkte zum Selbstverständlichen setzen für gesellschaftlich wertvoll, da die überwiegende Mehrzahl der Menschen den vorherrschenden Konventionen folgt. Sollte ein gewisser Anteil an z.B. schizophrenem Erbgut auch bei mir vorhanden sein, kann ich nur sagen: danke schön, sonst wäre ich vielleicht kein solider heterodoxer Ökonom, der vor einer abweichenden Meinung nicht zurückschreckt, auch wenn einem dies vermeintlich nur Akzeptanzprobleme bereitet.

Auch die Sensibilität anderen Menschen gegenüber wird geschärft. Da man nie genau wusste, in welcher „Stimmung“ sich der Bruder gerade befand, entwickelte man eine gewisse Beobachtungsintensität und womöglich Deutungskompetenz, um interpretieren zu können, wie es gerade um ihn bestellt ist. Eine solche antrainierte hermeneutische Ader wollte ich auch im Umgang mit anderen Menschen nicht missen.

Aber es kommt noch etwas hinzu. Da mein Bruder vom Verhalten her und im Unterschied zu Normalos, bei denen solche Umschwünge nicht so schroff und unvermittelt auftreten, oft schnell umschaltete, von manisch auf depressiv oder halluzinativ oder rational oder wie immer man es beschreiben möchte, wird man zwangsläufig zu einer Art dekonstruktivem Fundamentalexistentialisten. Man fragt sich nämlich, was ist der Wesenskern dieses und überhaupt jeden Menschen? Das kann zu einem Verlust eines Urvertrauens nicht nur in eine halbwegs vernünftige Gesellschaft, sondern eben auch hinsichtlich der in unseren Breitengraden unterstellten „mit sich selbst identischen Person“. Zwar haben einige v.a. französische Philosophen diese Deutungsfolie schwer angesägt, aber offen ist, ob sie und ihre Leser sie wirklich beiseitelegten. In diesen Kontext gehört auch die neuzeitliche Idealisierung und Unterstellung, dass Menschen einen freien Willen haben und entscheidungsfähige Subjekte sind. Auf dieser Annahme beruht auch unser Rechtssystem (Eigenverantwortlichkeit). Nun haben aber Verhaltensökonomen, (Sozial)Psychologen und andere, auf mechanistische Kausalitäten Ausschau haltende Naturwissenschaften gezeigt, dass Menschen auch kurzfristig erstaunlich verhaltensvariable Erscheinungen sind und recht flott ihre Ansichten und ihr Verhalten in Abhängigkeit vom Umweltkontext ändern, im Guten wie im Schlechten (von den netten Kleinbürgern, die situationsbedingt zu KZ-Wächtern wurden bis hin zum Milgram-Experiment). Was bleibt dann vom letztlich aus dem Christentum stammenden Personalitätsprinzip als latenter Hintergrundannahme im Alltag? Bei Tieren weiß man, woran man ist: ein Hund bellt, ein Skorpion sticht. Beim Menschen kann man nie so genau wissen, woran man ist. Die Frage, was ist eigentlich der Mensch bleibt dadurch wohl unbeantwortet. Sie stellt sich mit einem Bruder wie meinem sehr häufig und verleiht dem Leben durch ihre Virulenz eine gewisse, wenn auch nicht erheiternde Tiefe.

Das kann zu einem gewissen Urmisstrauen führen. Die dadurch hervorgerufene Distanz zur Mitwelt ist nicht gerade schön, ist meiner Meinung nach angemessen angesichts unserer nichtfixierten Conditio Humana. Für einen kritischen Sozialwissenschaftler ist auch dies eine womöglich gut sublimierte Ressource. Die meisten Menschen suchen soziale Anerkennung und Anschluss. Eine Minderheit hält auch Abstand. Corona hat uns gelehrt, dass es auch zu viel Nähe und Zusammenklumpen geben kann. Das war polemisch, aber sachlich dürfte schon zutreffen, dass einige Beobachter aus einer gewissen Distanz eine wertvolle Ergänzung sein können, womit nicht gesagt sein soll, dass ein solcher Habitus eine besonders große Freude für Ehefrauen oder Kinder ist. Ich bin meinem Bruder auf jeden Fall für dieses Framing meines Wesens für immer dankbar.

Wie hier erwähnte positiven Aspekte machen es sicher auch für viele andere Schwestern und Brüder erträglich(er), mit Kranken zusammen zu leben. Aber es wird für Viele gleichzeitig auch schlimmer: da sich auch schönes, bunt verrücktes und bereicherndes ereignet, fällt der Abstand und die Fähigkeit zur Distanzierung (ich habe auch mein eigenes Leben) und eindeutige Situationsdeutungen (das ist eine durch Krankheit bedingte Handlung) umso schwerer.

Wir haben letztlich nicht verhindern können, dass Ingo den Freitod wählte. Oder wurde er hineingetrieben, auch dank unseres Versagens an Hilfe? Ich habe eigentlich keine Schuldgefühle, da ich auch in seiner schwierigen Endzeit Kontakt mit ihm hielt und glaube, dass wir nicht alles in der Hand haben. Es ist gut, dass sich auch mein Bruder zu dieser Einsicht durchrang.

Er sagte öfters, er wolle unsere Mutter nicht bis an ihr Lebensende belasten und dann schwebte die Andeutung des Selbstmordes mit. Leider hat er bei seinem Ableben sehr gelitten, die Vorstellung daran tut sehr weh. Sie ist mit 99 Jahren vor kurzem verstorben und hat noch ein paar schöne Jahre erlebt. So gesehen hat unser Bruder sein Ziel erreicht und ihr Gutes getan. Mir gegenüber hat sie kaum über seinen Selbstmord geredet. Hat sie das etwa verdrängt? Die beeindruckend einsatzfreudigen Beschäftigten aus dem Pflegeheim haben mir allerdings berichtet, dass Sie Ingo Ihnen gegenüber öfters erwähnte.

Mein Bruder hat in seinem Leben wohl mehr gelitten als genossen. Ich hätte deshalb gerne auf all das schöne, erlebnisreiche und bildsame dank seiner Krankheit verzichtet, da der psychische Preis für ihn sehr hoch war. Meine Rolle zuhause war die des „Sonntagskindes“: Ich habe stets versucht für gute Laune zu sorgen und keine Probleme aufkommen zu lassen. Dies war innerfamiliär als „Nesthäckchen“ nicht schwer. Eigentlich finde ich es auch nicht schlecht, brenzliche oder kommunikativ gespannte Situationen durch Humor zu entschärfen. Aber man kann es dann auch übertreiben und der Versuch, Harmonie herzustellen ist in formalen Arbeitsbeziehungen keine gute Idee, da dies gerne als Schwäche ausgelegt wird.

Da ich ja durch den voll einschlagenden Dekonstruktivismus dank meines Bruders und Vaters nichts für unmöglich halte, male ich mir manchmal aus, ihm irgendwann einmal wieder zu begegnen, wer weiß schon, was in schwarzen Löchern und in der dunklen Materie wirklich vor sich geht und wir uns das gemeinsam erlebte erzählen und darüber auch lachen können und natürlich politische Updates vornehmen, sofern das dort erheblich sein sollte. Ich stelle mir vor, dass er nach wie vor sein multiples Selbst hat und wenn es aus dem Ruder zu laufen beginnt, schwebt ein Engel heran. Er legt die Hand auf seinen Kopf oder eine Schulter und die bedrückenden Energieanteile entschweben wie Goldstaub aus Mund und Nase. Anders als durch solche Phantasien lässt sich das Erlebte schlussendlich wohl doch nicht ertragen.

Helge


RE: Mein schizophrener Bruder, sein Vermächtnis und Erkenntnisse über ‚das Sein‘ - werwoiss - 11.01.2021

Lieber Helge,
vielen Dank für deine sehr bewegende Geschichte und für deine Art diese zu erzählen.
Es zeigt wieder, dass die Geschichten so unterschiedlich sein können und doch eint sie immer dasselbe. (Gesunde) Geschwister tragen fast die gesamte Last ihr ganzes Leben und müssen schauen, dass sie diese Last irgendwie bewältigen.
Bei mir ist es so, dass meine schwer kranke Schwester am Leben ist, aber durch extrem wenig möglichen Kontakt zu ihr frage ich mich manchmal ob ich nicht auch schon Trauer bewältige... Manchmal fühlt es sich so an, aber es ist wohl nicht dasselbe, weil ich gleichzeitig immer hoffe, dass sie noch viele Jahre lebt und ihr eigenes Glück finden kann, auch wenn ich davon so gut wie gar nichts mitbekomme. Aus dieser Perspektive ist es wohl noch so, dass ich Hoffnung haben darf und deshalb ist es nicht vergleichbar und ich habe großen Respekt vor dem möglichen Tag in der Zukunft an dem ich dann damit lernen muss zu leben. Die Schuldfrage stellt sich weiterhin immer, ob man will oder nicht, und eine gewisse Distanz ist sehr wichtig und ohne Alternative, wenn man selbst einigermaßen glücklich leben möchte.
Wenn ich deine Aussagen richtig deute, dann scheinst du einen guten Weg gefunden zu haben mit alldem umzugehen, oder?
Es gibt ja einige Angebote für trauernde Geschwister, aber diese sind dir bestimmt ohnehin schon bekannt. Link nachfolgend. 
https://trauernde-geschwister.org/hilfsangebote/
Vielleicht brauchst du das aber ja auch nicht. Je nachdem. Nur als Gedanke.
Ich wünsche dir alles Gute, Kraft und Zuversicht, damit du weiterhin gut mit deiner Situation leben und optimistisch in die Zukunft blicken kannst.
VG, 
werwoiss