23.04.2019, 12:45
Wie verschiedene Beiträge im Forum zeigen, treibt diese Frage viele Geschwister um. In der Zeitschrift Kerbe 3/2016 erschien dazu ein Artikel von Sybille Glauser. Frau Glauser ist Psychologin und Schwester und hat den nachfolgenden Artikel auch aus ihrer persönlichen Sicht und Erfahrung verfasst.
Wir danken Frau Glauser, dass sie uns gestattet hat, ihren Artikel hier zur Diskussion zu stellen.
Es wäre schön, wenn Ihr Eure Gedanken dazu schreiben würdet.
Herzliche Grüße
Lucie
Zum langfristigen Umgang mit Psychopharmaka
Ambivalenzen und Sichtweisen von Angehörigen
Sybille Glauser, lic. Phil. Psychologin, Präsidentin Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie, Angehörigenberatung, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
Die Frage, ob Psychopharmaka wirksam und hilfreich sind oder schlimmstenfalls sogar gesundheitsschädigende Nebenwirkungen haben, verunsichert Angehörige sehr. Die Einstellung von Angehörigen gegenüber Psychopharmaka ist meist abhängig von der Schwere und dem Verlauf der Erkrankung.
Das Thema Psychopharmaka wird kontrovers diskutiert. Was für die einen ein Segen ist, ist für Andere ein Fluch. Negative Vorurteile gegenüber Psychopharmaka sind weit verbreitet und tragen dazu bei, dass psychisch kranke Menschen nicht nur stigmatisiert werden aufgrund ihrer Erkrankung, sondern sich häufig selbst stigmatisieren, da sie auf die Einnahme von Psychopharmaka angewiesen sind. Angehörige, die schlecht oder gar nicht informiert sind über die Wirkungsweise, den Nutzen aber auch die Nebenwirkungen von Psychopharmaka, sind oft sehr verunsichert und tun sich schwer damit, sich eine Meinung über Psychopharmaka zu bilden. Sie sind meist sehr bemüht, sich Wissen über Medikamente anzueignen, die zur Behandlung von psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Sie quälen sich durch Fachliteratur, surfen im Internet oder suchen das aufklärende Gespräch mit Fachpersonen. Doch nur zu oft wird fundiertes Wissen über Psychopharmaka für Angehörige zur Qual und zwar dann, wenn das erkrankte Familienmitglied die Meinung der Angehörigen über den Beschwerden lindernden Nutzen von Medikamenten nicht teilt und die Medikation ablehnt. Gerade bei schweren Krankheitsverläufen weichen die anfängliche Kritik und das Misstrauen von Angehörigen gegenüber Psychopharmaka nach wiederholten Rückfällen hoffnungsvollen Erwartungen, die jedoch aus vielerlei Gründen selten erfüllt werden können.
Ich habe mich bei der Zusage zu diesem Artikel entschieden, den Anspruch auf „Objektivität“ und professionelle Distanz zu verwerfen und bin in die Angehörigenhaut geschlüpft, um dem Leser einen Einblick zu gestatten in die Lebens- und Leidensgeschichte meines Bruders und unserer Familie. Im Wissen, dass unzählige Angehörige von psychisch kranken Menschen unser Schicksal teilen, erhoffe ich mir durch meinen sehr persönlichen Beitrag bei Fachpersonen und vor allem bei Betroffenen mehr Verständnis für all jene verzweifelten Angehörigen, die das erkrankte Familienmitglied zur Einnahme von Medikamenten drängen in der vermeintlichen Hoffnung auf Genesung oder doch zumindest Linderung von quälenden Symptomen und Beschwerden.
Die psychische Erkrankung meines Bruders hat mein eigenes Leben massgeblich mitbestimmt. Die Ironie des Schicksals hat es so gewollt, dass ich trotz oder gerade wegen der schweren Erkrankung meines Bruders die Erfüllung in meinem Beruf gefunden habe. Ich bin Psychologin und bin in Bern bei den Universitären Psychiatrischen Diensten in der Beratung von Angehörigen psychisch kranker Menschen tätig. Ich war auch viele Jahre lang aktives Mitglied der VASK, die Selbsthilfevereinigung von Angehörigen psychisch kranker Menschen in der Schweiz. Ich erlaube mir, über die Erkrankung meines Bruders zu schreiben, da ich seit meiner Heirat einen anderen Namen trage als er und in einer anderen Stadt lebe. Es ist deshalb nicht möglich, Rückschlüsse auf seine Person zu ziehen.
Mein Bruder ist vor mehr als 30 Jahren an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt. Der erste Klinikaufenthalt, der gegen seinen Willen erfolgte, liegt nun schon drei Jahrzehnte zurück. Seine Erkrankung hat leider einen chronischen Verlauf genommen, er lebt seit 25 Jahren von einer Invalidenrente. Obwohl er während all den Jahren nie in der Lage war, auch nur annähernd eine gewisse Krankheitseinsicht zu entwickeln, erklärte er sich während eines längeren Klinikaufenthaltes bereit für eine dreiwöchentliche Depotmedikation. Diese Form der medikamentösen Behandlung linderte nicht nur seine Beschwerden. Da die tägliche Tabletteneinnahme ausfiel, wurde er auch nicht immer mit seiner Krankheit konfrontiert.
Die folgenden drei Jahre unter Depotmedikation sind mir unvergesslich geblieben. Mein Bruder wurde wieder zugänglich, er wirkte entspannt, machte sich aktiv Gedanken über seine Zukunft, auch seine berufliche Zukunft. Er verliebte sich, seine Liebe wurde erwidert, wir schöpften Hoffnung und alles schien eine gute Wende zu nehmen. Dann aber traf ein Oberarzt den bestimmt gutgemeinten aber für meinen Bruder folgenschweren Entscheid. Er empfahl meinem Bruder die orale Einnahme des Neuroleptikums und stellte die Depotmedikation ein. Er wollte meinen Bruder «in die Selbstständigkeit entlassen» wie er sagte und ihm die «Eigenverantwortung» übergeben. Leider erwies sich dies im Falle meines Bruders als Fehlentscheid. Mein Bruder konnte mit dieser «Freiheit» nicht umgehen, er setzte relativ rasch die Medikamente ab und erlitt in der Folge eine weitere schwere psychotische Krise, die einen Klinikaufenthalt, einmal gegen seinen Willen, zur Folge hatte.
Während dieses Klinikaufenthaltes machte ein Mitpatient ihn auf die Psychex aufmerksam. Die Psychex ist ein Verein, der sich gemäss ihrer Homepage zum „Anwalt psychiatrisch Verfolgter macht“, ihrer Meinung nach werden „Menschen in Anstalten versenkt und mit heimtückischen Nervengiften ruhiggestellt“. Ich musste mehrfach miterleben, wie mein Bruder mit Unterstützung der Psychex aus der Klinik entlassen wurde und dann hilflos und obdachlos vor der Klinikpforte stand. Der Psychex-Anwalt hatte meinen Bruder auch darin bestärkt, dass er die Medikation jederzeit verweigern könne. Dies war der traurige Wendepunkt im Leben meines damals 31-jährigen Bruders. Mit wenigen Ausnahmen von kurzen Intervallen während stationären Aufenthalten hat er die medikamentöse Behandlung seither immer vehement abgelehnt. Auch gegen jegliche andere Therapieformen hat er sich immer erfolgreich gewehrt.
Die Frage, wie das Leben meines Bruders wohl verlaufen wäre, wenn er die Depotmedikation beibehalten hätte, hat mich jahrelang verfolgt. Vielleicht hätte seine Liebesbeziehung auch schwierigeren Phasen standgehalten, vielleicht hätte er wieder teilzeitlich in seinem gelernten Beruf tätig sein können, vielleicht wäre es ihm möglich geworden, sich aktiv mit seiner Erkrankung auseinanderzusetzen und einen Umgang damit zu finden, vielleicht wäre mir der Bruder erhalten geblieben, so wie ich ihn in unserer Kinder- und Jugendzeit kannte. Im Nachhinein gesehen sind solche Fragen müssig und nicht hilfreich und doch drängen sie sich immer wieder auf. Mein Bruder hat sich durch die Krankheit sehr verändert, sein Denken ist derart durch wahnhafte Inhalte besetzt, dass er mich heute nicht mehr als seine Schwester wahrnimmt. Und nur zu oft zähle ich aus seiner Sicht zur Gruppe der vermeintlichen Verfolger. Während den ersten Jahren seiner Erkrankung fiel es mir extrem schwer, mich damit abzufinden, dass meinem Bruder ein solches Schicksal beschieden ist.
Seither sind mehr als 20 Jahre vergangen und mein Bruder ist von der Krankheit gezeichnet. Seine sozialen Kontakte beschränken sich nach dem Tod unserer Mutter auf den Kontakt zu meinem Vater, meiner Schwester und mir. Er lebt vollkommen isoliert in einer kleinen Zweizimmer-Wohnung. Tag und Nacht läuft der Fernseher. Mein Bruder wird von Stimmen gequält, Verfolgungsideen beherrschen sein Leben. Er ist stark abgemagert, weil er kaum Nahrung zu sich nehmen kann, da er unter Vergiftungsideen leidet. Seit Jahren hat mein Bruder nun auch noch ein Alkoholproblem. Alkohol scheint seine Selbstmedikation zu sein. Außer sich vor Angst und durch den Alkohol enthemmt, kam es mehrmals zu gewalttätigen Eskalationen. Mein Bruder wurde bisher mehr als dreißigmal hospitalisiert, leider meist gegen seinen Willen. Da die schweizerische Gesetzgebung eine medikamentöse Behandlung gegen den Willen eines Betroffenen nur in Akutsituationen erlaubt, wird mein Bruder bei einem Klinikaufenthalt aufgepäppelt und dann medikamentös unbehandelt wieder entlassen. Die Chance, dass er sich doch irgendwann einmal in seinem Leben von seinen paranoiden Wahngedanken distanzieren könnte, hat sich von Jahr zu Jahr verringert. Sein Denken hat sich dauerhaft von der Realität entfernt. Die Befürworter der Aussage „es muss ein Recht zur Entscheidung auf ein Leben in der Psychose geben“ machen sich meiner Meinung nach für eine Gruppe von Psychose kranken Menschen stark, die nicht repräsentativ sind für alle Kranken. Die Aussage mag auf Menschen zutreffen, die trotz psychotischem Erleben ihr Leben ohne unerträglichen Leidensdruck selbst gestalten können, die stark genug sind, sich als Gruppe zu organisieren und sich gemeinsam für ihre Rechte einzusetzen. Wie aber ist es um die Kranken bestellt, denen aufgrund der Erkrankung ihre Selbstbestimmung und ihre persönliche Freiheit abhandengekommen sind? Von Autonomie und Entscheidungsfreiheit kann meiner Meinung nach bei meinem Bruder keine Rede mehr sein, die Erkrankung beherrscht alle Bereiche seines Lebens. Ich weiß, dass ich mit meiner Aussage nicht bei allen Lesern auf Zustimmung stoßen werde, aber meinem Empfinden nach kommt es einer unterlassenen Hilfeleistung gleich, wenn ein Erkrankter über Wochen oder Monate unbehandelt und mit sichtlichem Leidensdruck dem psychotischen Geschehen ausgesetzt bleibt. Meine Haltung gegenüber dem 2013 in der Schweiz in Kraft getretenen revidierten Erwachsenenschutzrecht ist ambivalent, zum einen wird lobenswerterweise die Selbstbestimmung psychisch kranker Menschen gestärkt, andererseits wird psychisch Schwerstkranken fälschlicherweise eine Autonomie zugesprochen, die den Zugang zur Behandlung erschwert. Nicht nur mein Bruder leidet unter seiner unbehandelten Erkrankung. Für meinen Vater und uns Schwestern ist es unglaublich schmerzhaft, tatenlos mitansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch seiner Erkrankung hilflos ausgeliefert bleibt, im Wissen, dass es gute Behandlungsmöglichkeiten gäbe, wenn er sie denn annehmen könnte.
Wenn Patienten die Behandlung verweigern, insbesondere die medikamentöse Behandlung, dann kündigt sich die nächste Klinikeinweisung oft bereits mit dem Klinikaustritt wieder an, im Sinne des Drehtüreffekts. Nach dem Klinikaustritt sind es häufig die Angehörigen, die in die Bresche springen und den unbehandelten, dem Krankheitsgeschehen ausgelieferten Patienten wieder bei sich zuhause aufnehmen. Das Verweigerungsrecht wird dem Kranken zugestanden. Anders sieht es damit bei den Angehörigen aus. Sie, die häufig selbst am Rande der Erschöpfung stehen, können sich der Wiederaufnahme des erkrankten Familienmitgliedes kaum verweigern, sei es aus Liebe, aufgrund von Verantwortungs- oder Schuldgefühlen, oder sei es, dass es außer der Obdachlosigkeit keine wirkliche Alternative gibt. Das familiäre Netz, das den Erkrankten tragen sollte, läuft in dieser Situation Gefahr, unter der massiven Belastung zu reißen.
Mein Bruder hat mittlerweile eine langjährige Psychiatrieerfahrung und weiß um seine Rechte. So hatte beinahe jede seiner Klinikeinweisungen gegen seinen Willen eine Rekursverhandlung zur Folge. Angehörigen wird die Teilnahme an einer Rekursverhandlung nicht verwehrt und sie haben ein Recht auf Anhörung, allerdings ist etwas Geschick erforderlich, um herauszufinden, wann die Verhandlung stattfinden wird. Meine Schwester und ich haben mehrfach an Rekursverhandlungen teilgenommen. Auch wenn es schwierig war zu akzeptieren, so hatten wir doch immer Verständnis dafür, wenn ein Richter aufgrund der gutachterlichen Einschätzung, dass keine akute Fremd- oder Selbstgefährdung vorliege, die Zurückhaltung meines Bruders in der Klinik als nicht mehr gerechtfertigt erachten musste. Als absolut arrogant und selbstgerecht habe ich hingegen noch heute den Spruch eines Richters in den Ohren, der uns mit den Worten aus dem Saal entliess: „Heute will sich jeder der Verantwortung entziehen, sie sind seine Familie, man kann nicht alles, was unangenehm ist, dem Staat übergeben.“ Hätte sich besagter Richter bei seinem Aktenstudium oder während der Verhandlung bessere Kenntnisse über das soziale Umfeld meines Bruders verschafft, dann wäre ihm bewusst gewesen, dass meine Eltern am Ende ihrer Belastbarkeit waren.
Das Schicksal meines Bruders ist kein Einzelfall. Eine schwere psychische Erkrankung verursacht auch bei den Angehörigen unermessliches Leid. Wenn Angehörige hautnah miterlebt haben, wie sich der Erkrankte dank adäquater Medikation von seinem psychotischen Erleben distanzieren und wieder aktiv am Leben teilnehmen konnte, dann ist es unglaublich schmerzvoll und kaum zu ertragen, wenn sie untätig und hilflos zusehen müssen, wie der Erkrankte sein Recht auf Behandlungsverweigerung wahrnimmt und sich sein Zustand stetig verschlechtert. Neben allen Belastungen, die eine psychische Erkrankung mit sich bringt, sehen sich Angehörige einem unlösbaren Dilemma gegenüber, das nur schwer auszuhalten ist. Einerseits wünschen sich Angehörige für das erkrankte Familienmitglied Behandlungsmassnahmen, die aus ihrer Sicht zum Wohle des Erkrankten eingesetzt werden müssen, gleichzeitig aber befürworten sie dadurch die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Erkrankten.
Wir danken Frau Glauser, dass sie uns gestattet hat, ihren Artikel hier zur Diskussion zu stellen.
Es wäre schön, wenn Ihr Eure Gedanken dazu schreiben würdet.
Herzliche Grüße
Lucie
Zum langfristigen Umgang mit Psychopharmaka
Ambivalenzen und Sichtweisen von Angehörigen
Sybille Glauser, lic. Phil. Psychologin, Präsidentin Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie, Angehörigenberatung, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
Die Frage, ob Psychopharmaka wirksam und hilfreich sind oder schlimmstenfalls sogar gesundheitsschädigende Nebenwirkungen haben, verunsichert Angehörige sehr. Die Einstellung von Angehörigen gegenüber Psychopharmaka ist meist abhängig von der Schwere und dem Verlauf der Erkrankung.
Das Thema Psychopharmaka wird kontrovers diskutiert. Was für die einen ein Segen ist, ist für Andere ein Fluch. Negative Vorurteile gegenüber Psychopharmaka sind weit verbreitet und tragen dazu bei, dass psychisch kranke Menschen nicht nur stigmatisiert werden aufgrund ihrer Erkrankung, sondern sich häufig selbst stigmatisieren, da sie auf die Einnahme von Psychopharmaka angewiesen sind. Angehörige, die schlecht oder gar nicht informiert sind über die Wirkungsweise, den Nutzen aber auch die Nebenwirkungen von Psychopharmaka, sind oft sehr verunsichert und tun sich schwer damit, sich eine Meinung über Psychopharmaka zu bilden. Sie sind meist sehr bemüht, sich Wissen über Medikamente anzueignen, die zur Behandlung von psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Sie quälen sich durch Fachliteratur, surfen im Internet oder suchen das aufklärende Gespräch mit Fachpersonen. Doch nur zu oft wird fundiertes Wissen über Psychopharmaka für Angehörige zur Qual und zwar dann, wenn das erkrankte Familienmitglied die Meinung der Angehörigen über den Beschwerden lindernden Nutzen von Medikamenten nicht teilt und die Medikation ablehnt. Gerade bei schweren Krankheitsverläufen weichen die anfängliche Kritik und das Misstrauen von Angehörigen gegenüber Psychopharmaka nach wiederholten Rückfällen hoffnungsvollen Erwartungen, die jedoch aus vielerlei Gründen selten erfüllt werden können.
Ich habe mich bei der Zusage zu diesem Artikel entschieden, den Anspruch auf „Objektivität“ und professionelle Distanz zu verwerfen und bin in die Angehörigenhaut geschlüpft, um dem Leser einen Einblick zu gestatten in die Lebens- und Leidensgeschichte meines Bruders und unserer Familie. Im Wissen, dass unzählige Angehörige von psychisch kranken Menschen unser Schicksal teilen, erhoffe ich mir durch meinen sehr persönlichen Beitrag bei Fachpersonen und vor allem bei Betroffenen mehr Verständnis für all jene verzweifelten Angehörigen, die das erkrankte Familienmitglied zur Einnahme von Medikamenten drängen in der vermeintlichen Hoffnung auf Genesung oder doch zumindest Linderung von quälenden Symptomen und Beschwerden.
Die psychische Erkrankung meines Bruders hat mein eigenes Leben massgeblich mitbestimmt. Die Ironie des Schicksals hat es so gewollt, dass ich trotz oder gerade wegen der schweren Erkrankung meines Bruders die Erfüllung in meinem Beruf gefunden habe. Ich bin Psychologin und bin in Bern bei den Universitären Psychiatrischen Diensten in der Beratung von Angehörigen psychisch kranker Menschen tätig. Ich war auch viele Jahre lang aktives Mitglied der VASK, die Selbsthilfevereinigung von Angehörigen psychisch kranker Menschen in der Schweiz. Ich erlaube mir, über die Erkrankung meines Bruders zu schreiben, da ich seit meiner Heirat einen anderen Namen trage als er und in einer anderen Stadt lebe. Es ist deshalb nicht möglich, Rückschlüsse auf seine Person zu ziehen.
Mein Bruder ist vor mehr als 30 Jahren an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt. Der erste Klinikaufenthalt, der gegen seinen Willen erfolgte, liegt nun schon drei Jahrzehnte zurück. Seine Erkrankung hat leider einen chronischen Verlauf genommen, er lebt seit 25 Jahren von einer Invalidenrente. Obwohl er während all den Jahren nie in der Lage war, auch nur annähernd eine gewisse Krankheitseinsicht zu entwickeln, erklärte er sich während eines längeren Klinikaufenthaltes bereit für eine dreiwöchentliche Depotmedikation. Diese Form der medikamentösen Behandlung linderte nicht nur seine Beschwerden. Da die tägliche Tabletteneinnahme ausfiel, wurde er auch nicht immer mit seiner Krankheit konfrontiert.
Die folgenden drei Jahre unter Depotmedikation sind mir unvergesslich geblieben. Mein Bruder wurde wieder zugänglich, er wirkte entspannt, machte sich aktiv Gedanken über seine Zukunft, auch seine berufliche Zukunft. Er verliebte sich, seine Liebe wurde erwidert, wir schöpften Hoffnung und alles schien eine gute Wende zu nehmen. Dann aber traf ein Oberarzt den bestimmt gutgemeinten aber für meinen Bruder folgenschweren Entscheid. Er empfahl meinem Bruder die orale Einnahme des Neuroleptikums und stellte die Depotmedikation ein. Er wollte meinen Bruder «in die Selbstständigkeit entlassen» wie er sagte und ihm die «Eigenverantwortung» übergeben. Leider erwies sich dies im Falle meines Bruders als Fehlentscheid. Mein Bruder konnte mit dieser «Freiheit» nicht umgehen, er setzte relativ rasch die Medikamente ab und erlitt in der Folge eine weitere schwere psychotische Krise, die einen Klinikaufenthalt, einmal gegen seinen Willen, zur Folge hatte.
Während dieses Klinikaufenthaltes machte ein Mitpatient ihn auf die Psychex aufmerksam. Die Psychex ist ein Verein, der sich gemäss ihrer Homepage zum „Anwalt psychiatrisch Verfolgter macht“, ihrer Meinung nach werden „Menschen in Anstalten versenkt und mit heimtückischen Nervengiften ruhiggestellt“. Ich musste mehrfach miterleben, wie mein Bruder mit Unterstützung der Psychex aus der Klinik entlassen wurde und dann hilflos und obdachlos vor der Klinikpforte stand. Der Psychex-Anwalt hatte meinen Bruder auch darin bestärkt, dass er die Medikation jederzeit verweigern könne. Dies war der traurige Wendepunkt im Leben meines damals 31-jährigen Bruders. Mit wenigen Ausnahmen von kurzen Intervallen während stationären Aufenthalten hat er die medikamentöse Behandlung seither immer vehement abgelehnt. Auch gegen jegliche andere Therapieformen hat er sich immer erfolgreich gewehrt.
Die Frage, wie das Leben meines Bruders wohl verlaufen wäre, wenn er die Depotmedikation beibehalten hätte, hat mich jahrelang verfolgt. Vielleicht hätte seine Liebesbeziehung auch schwierigeren Phasen standgehalten, vielleicht hätte er wieder teilzeitlich in seinem gelernten Beruf tätig sein können, vielleicht wäre es ihm möglich geworden, sich aktiv mit seiner Erkrankung auseinanderzusetzen und einen Umgang damit zu finden, vielleicht wäre mir der Bruder erhalten geblieben, so wie ich ihn in unserer Kinder- und Jugendzeit kannte. Im Nachhinein gesehen sind solche Fragen müssig und nicht hilfreich und doch drängen sie sich immer wieder auf. Mein Bruder hat sich durch die Krankheit sehr verändert, sein Denken ist derart durch wahnhafte Inhalte besetzt, dass er mich heute nicht mehr als seine Schwester wahrnimmt. Und nur zu oft zähle ich aus seiner Sicht zur Gruppe der vermeintlichen Verfolger. Während den ersten Jahren seiner Erkrankung fiel es mir extrem schwer, mich damit abzufinden, dass meinem Bruder ein solches Schicksal beschieden ist.
Seither sind mehr als 20 Jahre vergangen und mein Bruder ist von der Krankheit gezeichnet. Seine sozialen Kontakte beschränken sich nach dem Tod unserer Mutter auf den Kontakt zu meinem Vater, meiner Schwester und mir. Er lebt vollkommen isoliert in einer kleinen Zweizimmer-Wohnung. Tag und Nacht läuft der Fernseher. Mein Bruder wird von Stimmen gequält, Verfolgungsideen beherrschen sein Leben. Er ist stark abgemagert, weil er kaum Nahrung zu sich nehmen kann, da er unter Vergiftungsideen leidet. Seit Jahren hat mein Bruder nun auch noch ein Alkoholproblem. Alkohol scheint seine Selbstmedikation zu sein. Außer sich vor Angst und durch den Alkohol enthemmt, kam es mehrmals zu gewalttätigen Eskalationen. Mein Bruder wurde bisher mehr als dreißigmal hospitalisiert, leider meist gegen seinen Willen. Da die schweizerische Gesetzgebung eine medikamentöse Behandlung gegen den Willen eines Betroffenen nur in Akutsituationen erlaubt, wird mein Bruder bei einem Klinikaufenthalt aufgepäppelt und dann medikamentös unbehandelt wieder entlassen. Die Chance, dass er sich doch irgendwann einmal in seinem Leben von seinen paranoiden Wahngedanken distanzieren könnte, hat sich von Jahr zu Jahr verringert. Sein Denken hat sich dauerhaft von der Realität entfernt. Die Befürworter der Aussage „es muss ein Recht zur Entscheidung auf ein Leben in der Psychose geben“ machen sich meiner Meinung nach für eine Gruppe von Psychose kranken Menschen stark, die nicht repräsentativ sind für alle Kranken. Die Aussage mag auf Menschen zutreffen, die trotz psychotischem Erleben ihr Leben ohne unerträglichen Leidensdruck selbst gestalten können, die stark genug sind, sich als Gruppe zu organisieren und sich gemeinsam für ihre Rechte einzusetzen. Wie aber ist es um die Kranken bestellt, denen aufgrund der Erkrankung ihre Selbstbestimmung und ihre persönliche Freiheit abhandengekommen sind? Von Autonomie und Entscheidungsfreiheit kann meiner Meinung nach bei meinem Bruder keine Rede mehr sein, die Erkrankung beherrscht alle Bereiche seines Lebens. Ich weiß, dass ich mit meiner Aussage nicht bei allen Lesern auf Zustimmung stoßen werde, aber meinem Empfinden nach kommt es einer unterlassenen Hilfeleistung gleich, wenn ein Erkrankter über Wochen oder Monate unbehandelt und mit sichtlichem Leidensdruck dem psychotischen Geschehen ausgesetzt bleibt. Meine Haltung gegenüber dem 2013 in der Schweiz in Kraft getretenen revidierten Erwachsenenschutzrecht ist ambivalent, zum einen wird lobenswerterweise die Selbstbestimmung psychisch kranker Menschen gestärkt, andererseits wird psychisch Schwerstkranken fälschlicherweise eine Autonomie zugesprochen, die den Zugang zur Behandlung erschwert. Nicht nur mein Bruder leidet unter seiner unbehandelten Erkrankung. Für meinen Vater und uns Schwestern ist es unglaublich schmerzhaft, tatenlos mitansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch seiner Erkrankung hilflos ausgeliefert bleibt, im Wissen, dass es gute Behandlungsmöglichkeiten gäbe, wenn er sie denn annehmen könnte.
Wenn Patienten die Behandlung verweigern, insbesondere die medikamentöse Behandlung, dann kündigt sich die nächste Klinikeinweisung oft bereits mit dem Klinikaustritt wieder an, im Sinne des Drehtüreffekts. Nach dem Klinikaustritt sind es häufig die Angehörigen, die in die Bresche springen und den unbehandelten, dem Krankheitsgeschehen ausgelieferten Patienten wieder bei sich zuhause aufnehmen. Das Verweigerungsrecht wird dem Kranken zugestanden. Anders sieht es damit bei den Angehörigen aus. Sie, die häufig selbst am Rande der Erschöpfung stehen, können sich der Wiederaufnahme des erkrankten Familienmitgliedes kaum verweigern, sei es aus Liebe, aufgrund von Verantwortungs- oder Schuldgefühlen, oder sei es, dass es außer der Obdachlosigkeit keine wirkliche Alternative gibt. Das familiäre Netz, das den Erkrankten tragen sollte, läuft in dieser Situation Gefahr, unter der massiven Belastung zu reißen.
Mein Bruder hat mittlerweile eine langjährige Psychiatrieerfahrung und weiß um seine Rechte. So hatte beinahe jede seiner Klinikeinweisungen gegen seinen Willen eine Rekursverhandlung zur Folge. Angehörigen wird die Teilnahme an einer Rekursverhandlung nicht verwehrt und sie haben ein Recht auf Anhörung, allerdings ist etwas Geschick erforderlich, um herauszufinden, wann die Verhandlung stattfinden wird. Meine Schwester und ich haben mehrfach an Rekursverhandlungen teilgenommen. Auch wenn es schwierig war zu akzeptieren, so hatten wir doch immer Verständnis dafür, wenn ein Richter aufgrund der gutachterlichen Einschätzung, dass keine akute Fremd- oder Selbstgefährdung vorliege, die Zurückhaltung meines Bruders in der Klinik als nicht mehr gerechtfertigt erachten musste. Als absolut arrogant und selbstgerecht habe ich hingegen noch heute den Spruch eines Richters in den Ohren, der uns mit den Worten aus dem Saal entliess: „Heute will sich jeder der Verantwortung entziehen, sie sind seine Familie, man kann nicht alles, was unangenehm ist, dem Staat übergeben.“ Hätte sich besagter Richter bei seinem Aktenstudium oder während der Verhandlung bessere Kenntnisse über das soziale Umfeld meines Bruders verschafft, dann wäre ihm bewusst gewesen, dass meine Eltern am Ende ihrer Belastbarkeit waren.
Das Schicksal meines Bruders ist kein Einzelfall. Eine schwere psychische Erkrankung verursacht auch bei den Angehörigen unermessliches Leid. Wenn Angehörige hautnah miterlebt haben, wie sich der Erkrankte dank adäquater Medikation von seinem psychotischen Erleben distanzieren und wieder aktiv am Leben teilnehmen konnte, dann ist es unglaublich schmerzvoll und kaum zu ertragen, wenn sie untätig und hilflos zusehen müssen, wie der Erkrankte sein Recht auf Behandlungsverweigerung wahrnimmt und sich sein Zustand stetig verschlechtert. Neben allen Belastungen, die eine psychische Erkrankung mit sich bringt, sehen sich Angehörige einem unlösbaren Dilemma gegenüber, das nur schwer auszuhalten ist. Einerseits wünschen sich Angehörige für das erkrankte Familienmitglied Behandlungsmassnahmen, die aus ihrer Sicht zum Wohle des Erkrankten eingesetzt werden müssen, gleichzeitig aber befürworten sie dadurch die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Erkrankten.