Micki stellt sich vor
#1
Hallo zusammen,

ein Verein für psychisch kranke Menschen, durch den mein 2 Jahre älterer Bruder betreut wurde, hat mir diese Seite empfohlen.

Ich bin Anfang 40 und mein Bruder (2 Jahre älter), war schwer chronifiziert an Schizophrenie erkrankt. Als Teenager war er bereits auffällig, so richtig brach die Erkrankung aber erst 1996 aus (da war er 22).

Ich denke, viele hier kennen die Höhen und Tiefen dieser Erkrankung (mit Polizeieinsätzen etc.).

Nun....leider ist mein Bruder bei einem solchen im Oktober letzten Jahres verstorben. Ich erhebe schwere Vorwürfe an die Polizei. Mein Bruder sollte in Gewahrsam genommen werden, da er unachtsam über die Straße lief. Tatsächlich hatte mein Bruder zu dem Zeitpunkt schon eingeschränkte Vitalfunktionen, was deutlich sichtbar war.

Statt einen RTW zu rufen, gab es wohl schlimme Szenarien. Es läuft ein polizeiliches Ermittlungsverfahren gegen die Beamten.

Das ganze ist sehr schlimm für mich. Ich wusste eigentlich immer sicher, dass ich meinem Bruder nicht helfen kann. Er war nicht einsichtig. Die örtlich zuständige Klinik hat aber irgendwann einen Weg gefunden, dass mein Bruder immerhin für einen Tag freiwillig dort bleibt. Diese individuelle Methode habe ich persönlich begrüßt, denn es war die erste Klinik, bei der ich nicht das Gefühl hatte, mein Bruder wird einfach verwahrt. Ich hatte den Eindruck, man nimmt ihn auch als Mensch wahr und nicht nur als erkrankten Menschen. 

Seit seinem Tod mache ich mir teilweise schwere Vorwürfe. Hätte ich doch mehr tun können?

Die Beerdigung habe ich organisiert. Ich weiß zwar, dass mein Bruder sehr gelitten hat unter der Erkrankung, da er in den letzten Jahren wirklich permanent eingeschränkt war. Es gab kaum noch Momente, in denen er "klar" war.

Aber dennoch ist es schwer......sorry für den langen Text.
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#2
Hallo Micki,
längere Texte, d.h. längere Darstellungen von Situationen und Abläufen, gefallen mir gut: so kann ich mir halbwegs ein Bild machen; sicher geht das Anderen auch so.
Was Dir und Deinem Bruder in den letzte Jahren geschehen ist - und insbesondere der von Dir angesprochene tödlich Unfall sind fürchterlich! Der "normale" Tod eines Bruders ist schlimm und tut weh, der Suizid wird als noch schlimmer erlebt (ich rede aus eigener Erfahrung), aber ein Unfall in einer Krisensituation mit Beteiligung von Polizei - wie man bzw. frau sich da fühlt kann ich sicher nicht nachfühlen, es ist einfach zu tiefreifend und außerdem noch hoch komplex.
Aber eins weiß ich ganz genau:
Du hast mit Sicherheit alles getan, was Du tun konntest - wahrscheinlich sogar einiges darüber hinaus - , und was für Deinen Bruder gut und hilfreich war. Wir alle fragen uns ja immer wieder: könnten oder sollten wir mehr tun? - Wobei wir gleichzeitig wissen: das, was wir als Geschwister tun können, ist begrenzt! Wir haben das Recht und die Pflicht auf ein eigenes Leben, wir brauchen Zeit und Kraft für unsere Berufstätigkeit und unsere eigene Familie als Vater bzw. Mutter, und für unsere Freunde.
Mir ist es nicht leicht gefallen mich von Schuldgefühlen frei zu machen, als mein Bruder sich das Leben nahm; denn: natürlich hätte er die Medikamente nicht genommen, wenn ich an dem Tag bei ihm gewesen wäre  (so wie am Tag zuvor, und wie ich es für den nächsten Tag vor hatte). Aber trifft mich deshalb eine Schuld? Sind wir in der Lage, alle Eventualitäten und Zufälligkeiten im Leben eines Menschen vorauszuahnen und für sicheren Schutz zu sorgen?
Sind wir nicht, und wenn wir das annehmen würden wären wir nahezu grenzenlos anmaßend, überheblich etc.
Mich hat der Suizid meines Bruders Demuth gelehrt.
Bei Dir kommt noch das mögliche Fehlverhalten der Polizei hinzu - das macht es, glaube ich, noch schwerer irgendwie mit dem klar zu kommen, was Du erleben musstest und es wird sicher viel Zeit benötigen und Menschen, mit denen Du reden kannst ohne bei ihnen befürchten zu müssen, dass sie das, was Dich umtreibt, nicht verstehen können.
Nicht nur darum wäre es toll, wenn wir irgendwann für jeden halbwegs  gut zu erreichende Geschwistergruppen hätten.
Ich wünsche Dir alle, alles Gute
Reinhard
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#3
Hallo Reinhard,

vielen Dank für deine Worte.

Ich kann mir vorstellen, welche Vorwürfe du dir gemacht hast. Und das mit den Medikamenten kenne ich natürlich auch genau so, wie du es beschreibst. Das war bei uns nicht anders. Eine Ärztin meines Bruders sagte vor vielen Jahren mal zu mir, dass es durchaus passieren kann, dass er einmal Suizid begeht. 1996 hat er es versucht und fast geschafft. Ich muss dazu sagen, dass mein Bruder in den letzten Jahren kaum noch klare Momente hatte. Er war fast durchgehend psychotisch.

Am 20.10. erhielt ich morgens um kurz vor 7 den Anruf, dass mein Bruder etwa 36 Stunden zuvor verstorben war und bereits obduziert wurde. Ich kann nicht sagen, was in dem Moment in mir genau vorgegangen ist. Ungläubigkeit......Alptraum.....usw. usw.

Ich habe ab da erstmal nur funktioniert. Ich wollte verhindern, dass er in der Stadt, in der er sich gerade befand (rechtsmedizinisches Institut) anonym beerdigt wird. Mein Bruder erhielt Grundsicherung vom Sozialamt, da er ja nicht erwerbsfähig war. Zu meinen Eltern hatte ich keinen Kontakt und ich wusste, wenn ich es nicht mache....dann wird das Ordnungsamt es erledigen. Warum ich das wusste? Es war immer schon so....ich war immer die, die sich kümmern muss. Egal um was. Bis zum Tod meiner Oma 2005 zusammen mit dieser. 

Mittags um 12 Uhr war mein Bruder wieder in unserer Geburtsstadt, in der er bis zum Schluss wohnte. Auf meinen Wunsch wurde er auch im Grab unserer Großeltern beigesetzt, da wir immer ein extrem inniges Verhältnis zu diesen hatten. Meine Oma hat sich immer aufopferungsvoll um meinen Bruder gekümmert. 

Ich habe mich auch durchgesetzt und alle Betroffenen der Einrichtung, in der mein Bruder auch betreut wurde, zur Beerdigung eingeladen. Weil ich gesagt habe, mir ist es egal, welche Störungen andere haben. Sie haben in dem Leben meines Bruders eine Rolle gespielt. Und dann möchte ich sie auch dabei haben. 

Die Trauer kam viel später. Zwischendurch die Wut....und ich glaube manchmal, mein Bruder wollte, dass ich wütend werde. Denn er wusste, meine Wut habe ich immer unter Kontrolle. Aber dann funktioniere ich auch. 

Jetzt ist mein Bruder seit 9 Wochen beerdigt und es gibt immer noch Dinge zu klären. Durch meine berufliche Tätigkeit im juristischen Bereich bin ich mit einem Anwalt an der Sache dran. Kosten entstehen mir hier nicht. 

Oft denke ich, jetzt geht es ihm besser....und dann denkt man wieder, warum musste er so leiden? Warum musste er das erdulden vorher. Ich kann ja nicht mehr tun, als im Namen meines Bruders für Gerechtigkeit zu kämpfen. Wiederbringen wird es ihn natürlich nicht.

Mein Chef sagt immer, ich kann nicht mehr tun, als ich immer getan habe und jetzt noch tue.....dennoch hat man oft das Gefühl, es ist zu wenig. Man hätte noch mehr tun können. Auch wenn das natürlich nicht richtig ist. :-)

LG
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#4
Hallo Micki,
das kenne ich gut, wahrscheinlich die meisten von uns: Das Gefühl, man hätte mehr tun müssen - und das Wissen, dass das so nicht stimmt!
Ich glaube, wir alle stellen uns auch die Frage und wissen, wie 'unsinnig' sie eigentlich ist: "Warum musste er dieses Leid ertragen?" Diese Frage ist nur 'eigentlich' unsinnig, denn sie drückt unser Mit-Leiden aus.
Wir könnten uns auch fragen, "Warum müssen wir dieses Mit-Leiden ertragen?" - und wissen: diese Frage ist nicht zu beantworten. Aber es gibt einen kleinen Unterscheid zwischen dem Leid des Bruders und dem eigenen Mit-Leiden: Wir hätten bzw. haben mit der Zeit die Möglichkeit, uns zumindest ansatzweise vor den Tiefen des Mitleidens  zu schützen, wir können (grundsätzlich, nicht immer) den tiefen Schmerz unseres Mit-Leidens überwinden, ohne unsere Beziehung (Liebe?) zu unserem Bruder aufzugeben. Ich glaube, diese "Überwindungsarbeit" müssen wir leisten, um unser eigenes Leben mit unserer Familie bzw. den uns noch nahe stehenden Personen leben zu können.
Was ich Dir aber vorrangig scheiben will:
Ich bin beeindruckt, wie sehr Du die Interessen Deines Bruders noch nach seinem Tod verfolgst: der Ort der Beisetzung und die Beerdigung mit den Betroffenen der Einrichtung, einfach super!!!!!
In diesem Sinne: weiter so,
liebe Grüße
Reinhard
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#5
Hallo Reinhard,

ich denke, als kleine Schwester bin ich meinem Bruder das schuldig. 

Das Gefühl, er ist bei unseren Großeltern, beruhigt mich.

Was ich persönlich auch schlimm finde.......wenn man mal jemandem das anvertraut, kommt oft Unverständnis. Man muss sich allerhand anhören. Warum eigentlich? 

Die wenigsten können doch etwas dafür und mein Bruder war auch nie agressiv. Und auch er hat sich die Erkrankung ja nicht gewünscht.

Warum gehen Dritte so extrem damit um? Psychisch krank = potenzieller Straftäter. Ist doch quatsch.

Habt ihr da andere Erfahrungen?

Klar, solche Menschen braucht man nicht in seinem Umfeld. Man wird ihnen aber immer wieder begegnen.

VG
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#6
Hallo Micki,
die Stigmatisierungen in sozialen Umfeld, von denen Du berichtest, kennen alle in deren Familie eine psychische Erkrankung aufgetreten ist.
Tröstlich: die Stigmatisierung nimmt tendenziell ab, wobei es Menschen gibt, die dafür sehr engagiert sind, auch Geschwister. Sie gehen als Angehörige, zusammen mit einem Psychiatrie-Erfahrenen und einem Profis in Schulklassen - das hat eine enorme Wirkung auf die Schüler und deren Eltern, denn sie berichten davon.
Generell gilt: wir müssen die Diskussion darüber suchen, auch und gerade mit den Menschen, die uns mit Fehlurteilen begegnen - denn diese Urteile kommen ja nicht aus dem Nichts: früher wurden psychisch Erkrankte hinter Mauer weggesteckt: die können doch nur gefährlich sein, warum sonst diese Mauern? In Fernsehfilmen kommen, so mein Eindruck, mehr angemessene als unangemessene Darstellungen psychischer Störungen zum Ausdruck, aber in der Presse wird natürlich berichtet, dass der und der Übergriff von einem "psychisch Gestörten" ausgeführt wurde, das verstärkt zwingend den Eindruck der Gefährlichkeit.
Wir Geschwister leben ja in "ganz normalen Umfeldern" und werden so mit den ganz alltäglichen und weitverbreiteten Haltungen der Menschen konfrontiert - wie gesagt, immer mal wieder mit dem, was Du beschreibst. Unsere Eltern haben deshalb vermieden von der Erkrankung ihres Kindes bei Freunden oder im Arbeitsumfeld zu reden - damit haben sie den Fehlmeinungen nichts entgegen setzen können (das ist kein Vorwurf, eine Feststellung!). Wir haben es in der Hand, bei den 100  oder 200 Menschen, mit denen wir zu tun haben, deren Haltung durch Information mit zu beeinflussen.
Natürlich ist das schwierig, gerade dann, wenn wir uns ohnehin belastet fühlen; es ist sicher auch ein schlechter Rat, so am Beginn der neuen Erfahrung mit einer psychischen Erkrankung zu verfahren, da ist es sicher besser, sich erst einmal selbst eine Vorstellung von dem zu bilden, was da eigentlich los ist.
Was meinst Du, sollten wir auf unserer Seite einen Diskussionsstrang "Stigmatisierung" als Thema einrichten? Da könnte unsere technikversierte Hanna unsere beiden Beiträge rüberschieben und bei Gelegenheit könnte dort ein fachlich orientierter Beitrag zu den Fakten die Stigmatisierung betreffend hochgeladen werden, incl. der Daten zu Straftaten von Menschen mit einer psychischen Störung - als Argumentationshilfe bei den von mir präferierten Auseinandersetzungen. Was hältst Du davon? Vielleicht können sich ja auch Mitlesende dazu äußern.
Danke für die Anregung und liebe Grüße
Reinhard
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#7
Hallo Reinhard,

die Idee finde ich super.

Ich hatte ja auch schon mit dem Gedanken gespielt, einen Verein gegen die Diskriminierung psychisch kranker zu gründen. Aber sowas muss natürlich gut durchdacht sein, da Zeit etc. natürlich auch bei mir eine große Rolle spielt. :-)

Als das damals mit dem Flugzeug passiert ist, welches in den Alpen abgestürzt ist, da hieß es ja auch, der Pilot hätte Depressionen gehabt. Ich fand das so schlimm.....jeder der darunter leidet, muss sich doch fürchterlich gefühlt haben. Durch solche Dinge werden aber Erkrankungen auch wieder negativ dargestellt.

Andersrum gibt es genug Täter, die vorher überhaupt nicht auffällig waren. Und dass die Gutachter den meisten eine narzistische Persönlichkeit bescheinigen, wundert mich auch nicht wirklich. Ich habe immer gesagt, aus der Psychiatrie kommt niemand ohne Diagnose raus. ;-)

Der nächste Punkt, den ich richtig schlimm finde, sind die Zustände in einigen Psychiatrien bzw. auch das Verhalten der Ärzte/des Pflegepersonals gegenüber Betroffenen. 

In Wesel gab es zuletzt eine große Debatte. Ein Verein für psychisch kranke hat dort eine Erweiterung des betreuten Wohnens geplant und Anwohner haben dagegen protestiert. Sie fühlten sich bedroht von 6 Betroffenen, die dort wohnen. Genauer begründen konnten die Anwohner das wohl nicht. ;-)
Das ganze wurde wohl auch ziemlich aufgebauscht seitens dieser Anwohner. Ich persönlich fand es ziemlich extrem. Man hätte ja auch einfach mal das Gespräch suchen können mit dem Verein oder den Verantwortlichen. :-)

VG
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#8
[font=Söhne, ui-sans-serif, system-ui, -apple-system,]Es ist positiv zu hören, dass es eine Klinik gab, die sich bemüht hat, deinen Bruder als Mensch zu sehen und nicht nur als erkrankte Person. Der laufende Ermittlungsprozess gegen die Polizeibeamten zeigt, dass die Umstände gründlich untersucht werden, und das Ergebnis dieser Untersuchung könnte mehr Klarheit bringen.[/font]

[font=Söhne, ui-sans-serif, system-ui, -apple-system,]Es ist wichtig zu erkennen, dass du als Angehöriger von jemandem, der mit psychischen Gesundheitsproblemen kämpfte, eine belastende und oft machtlose Position hattest. Professionelle Hilfe und Unterstützung können in solchen Momenten von entscheidender Bedeutung sein. Wenn du dich bereit dazu fühlst, könnte es hilfreich sein, mit einem Therapeuten oder Berater zu sprechen, um deine Gefühle und Gedanken zu verarbeiten. Trauerverarbeitung ist ein individueller Prozess, und du solltest dir die Zeit und den Raum geben, den du benötigst. inga gehricke geschwister[/font]
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