Sichtbar werden?
#1
Liebe Geschwister,

bis auf meine Vorstellung vor langer Zeit  habe ich in diesem Forum nur gelesen.
Nun beschäftigt mich seit einiger Zeit eine Frage, die in den letzten Tagen sehr viel konkreter noch geworden ist.
Die Frage ist: werde ich sichtbar? Mit allen möglichen Folgen. Selbst hier, wo ich einen geschützten Raum vermute, gebe ich nicht meinen echten Namen preis.
Meine ältere Schwester hat seit gut 30 Jahren eine paranoide Schizophrenie. Wir haben nicht viel Kontakt. In schlechten Zeiten bin auch ich Ziel Ihrer Aggressionen, Beschimpfungen, etc.
Als sie vor drei Jahren dann bei mir im Büro unzählbare Nachrichten hinterließ, hat mich das ein wenig aus der Bahn geworfen. Ich hatte kurz zuvor eine leitende Position übernommen, in der ich sichtbarer wurde. Das war nicht meine Intention, ganz im Gegenteil, gehörte aber hier und da dazu. Ich habe meinen Bereich in Netzwerken vertreten, bin auf der Homepage entsprechend aufgetaucht, etc.
Nun habe ich mich beruflich verändert, bin nach wie vor im sozialen Bereich tätig. Als die Sprache darauf kam, dass ich nun auch mal als Teil des Teams mit Bild, Name und Kontakt auf der Homepage auftauchen soll, wurde ich nervös, bekam ich Angst. Das hat mich selbst sehr überrascht. Ich hatte Angst, dass meine Schwester sieht, wo ich arbeite, dass allein das sie schon wieder triggern könnte. Ich habe das Gespräch mit meiner Chefin gesucht und erstmal ihr und später auch den Kolleg:innen einen ganz kleinen Teil meiner Geschichte erzählt.
Ich bin nicht auf der Homepage. Und für meine Arbeit ist es totaler Mist! Von Außenstehenden werde ich laufend darauf angesprochen. Nach eineinhalb Jahren fallen mir auch keine Ausreden mehr ein.
Gut, damit kann ich irgendwie leben, wenngleich sich in mir immer mehr Wut darüber aufbaut, dass ich mich "verstecke", meine beruflichen Möglichkeiten ungenutzt lasse und Angst mein Berater ist.
Nun hat sich noch etwas Neues ergeben: in beruflichem Kontext habe ich mit der Psyhiatriekoordinatorin des Landkreises zu tun, nicht schwerpunktmäßig. Sitze aber mit in einem "Bündnis gegen Depression" eben als Vertreterin des Trägers, für den ich tätig bin.
Die Koordinatorin wandte sich nun an mich mit der Suche nach einem:r Vertreter:in für die Seite der Angehörigen psychisch erkrankter Menschenfür die Psychiatriekonferen des Landkreises.
Dass ich Angehörige bin, weiß sie nicht. Sie bat mich, das mal in meinem Netzwerk zu streuen. Da gibt es niemand, der/die sich dafür interessiert oder Ressourcen hat.
Und was passiert: ich überlege ernsthaft, ob ich mich nicht dafür melde.
Das heißt aber auch, ich werde sichtbar. Nicht nur irgendwie, sondern ganz explizit mit dem Thema.
Ich wälze "Für und Wider".

Dagegen spricht:
- meine Angst vor möglichen Reaktionen (auch in der Öffentlichkeit) meiner Schwester
- eine Scham (die ich nicht haben müsste, die aber da ist)
- die Sorge von Menschen, die mich bisher als qualifizierte Fachkraft wahrgenommen haben, anders angeschaut zu werden
- wenn ich das Bedürfnis habe, diesen Teil meines Lebens einfach mal für eine Zeit verdrängen möchte, wird das so einfach nicht mehr möglich sein, denn ich spüre dann eine gewisse Verantwortung
- ich bin gerade dabei mich nebenberuflich selbständig zu machen, weiter im non-Profit-Bereich, aber weg aus dem psychosozialen, perspektivisch will ich da einfach ganz raus
- und diffuse andere Gefühle, die ich gerade noch nicht so richtig greifen kann und formulieren kann

Dafür spricht:
- ich weiß, dass ich aufgrund meiner beruflichen Erfahrung in Gremien und Netzwerken gut könnte
- weil wir alle so oft und so lange unsichtbar sind, würde ich sehr gerne einen Beitrag leisten, den Blick zu erweitern
- ich könnte meine Erlebnisse und Erfahrungen in einem größeren Sinnzusammenhang sehen
- und vor allem: dieser Gedanke lässt mich einfach nicht mehr los

Mich interessiert, ob auch ihr solche, ähnliche Situationen kennt. Wie geht es euch damit? Welche Entscheidungen habt ihr getroffen?
Ich bin gespannt und danke euch jetzt schon mal.

Summer
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#2
Hallo Summer,
das Sichtbar werden hat mich auch eine lange Zeit beschäftigt. Hab lange alles in mich hineingeschwiegen. Der Tag wo ich es "rauslassen" konnte hat mir persönlich sehr gut getan und sich wie eine Befreiung angefühlt. Wollte aber die 17 Jahre zuvor nicht einmal daran denken.
Jede Geschichte ist anders und jeder geht anders mit der Situation um.
Was mir persönlich sehr geholfen hat sind die Mutmachleute
www.mutmachleute.de
und auch der Podcast AngeHören vom ApK München hat mir hier sehr geholfen.
Wünsche dir, dass du auch einen guten und glücklichen Weg für dich finden wirst und dass du auch Menschen/Institutionen findest, die dich unterstützen.
Viele Grüße,
werwoiss
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#3
Hallo Summer, hallo werwoiss,
ich habe mich eben für das Forum registriert und habe euren Austausch soeben gelesen. Soviel Scham und soviel Verstecken. Das tut mir wahnsinnig Leid. Ich weiß, dass das eine ungeheure Bürde ist. Ich habe das erste Mal mit 19 Jahren von meinen kranken Geschwistern erzählt, zunächst nur wenigen Menschen, aber es tat unwahrscheinlich gut. Vorher war es unmöglich, tiefe Kontakte aufzubauen, ließ ich doch Wesentliches aus. Jetzt bin ich 52 Jahre und gehe wesentlich freier damit um. Und ich sag euch was: Es ist der Weg zur Heilung. Es betrifft doch nicht euer einmaliges Wesen, dass eure Geschwister Psychosen haben oder hatten. Es ist, wie es ist. Und ihr seid, wie ihr seid. Eure Geschwister sind, wie sie sind. Es gibt keinen Grund für Scham, höchstens für Stolz, was ihr alles im Leben gemeistert habt und mit Zuversicht noch meistern werdet.
In diesem Sinne, passt auf euch auf.
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#4
Hallo UtaMuth,
vielen herzlichen Dank für deine sehr hilfreichen und ermutigenden Worte.
Kennst du die Mutmachleute? (www.mutmachleute.de) Ich könnte mir vorstellen du wärst eine prima Mutmacherin?
LG,
werwoiss
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#5
Lieber Werwoiss,
ich schau mir die Seite an.
LG
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#6
Hallo Summer,

ein Jahr nach der Veröffentlichung Deines Themas bin ich darüber gestolpert. Mit dem Thema Sichtbarkeit und sichtbar werden gehe ich total in Resonanz. Sichtbarkeit und der Wunsch/Bedürfnis sich selbst zu schützen ist eine Herausforderung!!! Sichtbar werden bedeutet für mich das Aufgeben meiner alten Sicherheiten. Wie ich damit umgehen werde, weiß ich noch nicht. Schlussendlich hat man ja nicht die Kontrolle darüber, wie man wahrgenommen wird; nur...den Schattenteil der Familiengeschichte aktiv im Hier-und-Jetzt zu integrieren oder auch nur zu benennen, find ich persönlich schwer - da kommt zum Teil auch Panik hoch. Ja, auch das Nervensystem mit all seinen differenzierten Reaktionen (Flucht, Kampf, Erstarren) ist involviert...das irgendwie zu beleuchten und wahrzunehmen ist grad in meinem Alltagsfokus.

Wie ist es Dir seither ergangen?

LG
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