Borderline-Geschwister: Umgang mit Wut, Trauer, Verzweiflung?
#5
Hallo mar.tar,

dass Dein Beitrag schon älter ist weiß ich. Antworten möchte ich Dir "mal trotzdem"  Tongue, weil Deine Frage derjenigen, wegen der ich in dieses Forum gekommen bin, sehr ähnlich ist.

Vorab die Information, dass ich inzwischen 47 Jahre alt bin, mein Bruder ist 45.

Er ist mit 19 Jahren an Schizophrenie erkrankt. Zu dem Zeitpunkt war die Erziehung hin zu einem Mindestmaß an Benehmen, Rücksichtnahme und Selbstständigkeit bei den meisten Gleichaltrigen schon weitestgehend abgeschlossen. Es gibt, auf Seiten meiner Eltern, diesbezüglich ein großes Versäumnis - insofern ich, im Gegensatz zu Dir, die Schuld bei meinen Eltern suche. (Die krasseste Aussage aus seinem - mehr oder weniger - professionellen Netzwerk war in diesem Zusammenhang, dass mein Bruder wohlmöglich keine betreute Wohneinrichtung bräuchte, wäre seine Erziehung anders verlaufen.)

Da ich unter seinem großen Mangel an Rücksichtnahme und Benehmen gerade in der Zeit, in der wir in meinem Elternhaus zusammen aufgewachsen sind, stark gelitten habe, triggert mich gerade dieses Verhalten noch heute besonders. 
Du fragtest Dich, warum Du Deine Gefühle zurückhalten und Rücksicht nehmen sollst, während Deine Schwester tut und lässt, was sie will. Zu genau diesem Verhalten bin ich erzogen worden, was sehr ungerecht war.

Auf der einen Seite sehe ich den Einfluss seiner Erziehung, auf der anderen frage ich mich, inwieweit die Ursache des fehlenden Blicks für seine Mitmenschen und die Selbstvernachlässigung in seiner Krankheit liegt und ob bestimmte schlechte Angewohnheit aus dem jahrzehntelangen Leben mit ihr resultieren. - Womit wir bei der Frage wären, die auch Du Dir stelltest.

So sieht mein Bruder meine Bedürfnisse nicht. Z.B. hat er mich, während meines Krankenhausaufenthaltes nach einer Bandscheiben-OP, nicht ein einziges Mal angerufen. Er lebt in einer betreuten Wohngruppe, das Anwählen von Handynummern ist aus den Bewohnerzimmern gesperrt. Er hätte im Mitarbeiterbüro um ein Telefonat bitten müssen. Einen Besuch habe ich nicht erwartet. Wir wohnen weiter auseinander, ein solcher hätte ihn überfordert. Um ein Telefonat hätte er sich in meinen Augen bemühen können.

Auch hat er eine, in meinen Augen blöde, Reaktion nach dem Sturz meiner damals 83jährige Mutter an den Tag gelegt. Sie hatte nach dem Unfall über 24h auf ihrem Teppich gelegen. Mein Bruder und ich haben uns anschließend getroffen und ich habe ihm davon erzählt, dass mir vor den Reinigungsarbeiten graut. Er hat mich daraufhin gefragt, ob er mir helfen soll. Dieses habe ich ihm freigestellt (Hilfeleistungen sind in meinen Augen freiwillig. Es hätte sich für mich falsch angefühlt sie einzufordern.), woraufhin mein Bruder nur kurz sagte "Dann fahre ich gleich wieder in die Wohneinrichtung." - und weg war er.

Er hat kaum Benehmen, setzt sich z.B. oben ohne an den Frühstückstisch und nimmt z.T. so große Bissen in den Mund, dass das Essen vorne heraus kommt.

Und dann reicht meine Geduld nicht für seine grenzenlose Unselbstständigkeit. Er lässt seine Kleidung so verdreht, wie er sie nach dem Ausziehen in der Hand hält, überall liegen. 
Ohne detaillierte Anleitung geht, bis auf Tabletteneinnahme, eigentlich gar nichts:
  • kein Trockenlegen des Badezimmers mach dem Duschen;
  • keine gründliche Rasur (Diese übernimmt nach wie vor meine inzwischen 87 Jahre alte Mutter, wenn er bei ihr ist - wie sie ihm generell ins Bad folgt, um Anleitungen zu geben.);
  • kein Überziehen des Bettes;
  • keine Planung der vorbereitenden Aufgaben für ein Verlassen des Hauses zu einem bestimmten Zeitpunkt;
  • kein Decken des Frühstückstisches usw., usw., usw. 

Kritik an der Beziehungsqualität zwischen meiner Mutter und meinem Bruder und an seinem Verhalten habe ich schon sehr oft geübt. Zum einen aus gesundem Selbstschutz, zum anderen aus Sorge um meinen Bruder, der systematisch in eine Lebensunfähigkeit gedrängt worden ist. 

Sei Anfang des Jahres übernehme ich verstärkt Verantwortung für meine inzwischen 87jährige Mutter. Ich habe für Mutter und Bruder eine Generalvollmacht und tätige ihre Rechtsgeschäfte, die gerade für meine Mutter umfangreicher sind. 

Gott sei Dank habe ich mittlerweile ein grundlegendes Bewusstsein dafür, dass wir, in gleichem Maße wie unsere Angehörigen,ein Recht auf Selbstschutz und ein möglichst glückliches Leben haben.

In der letzten Zeit frage ich mich immer häufiger, inwieweit es für meine Reaktionen überhaupt ausschlaggebend ist, welche Ursachen das kranke Verhalten meines Bruders und die ebenso kranke Symbiose zwischen Mutter und Sohn hat. Es ist existent und es liegt an mir zu entscheiden, inwieweit ich mich dessen aussetzen möchte. 

Kennst Du die Metapher von den Folgen, legt man einen gesunden und einen kranken Apfel nebeneinander? Es heißt, dass dann der gesunde Apfel krank wird, nicht umgekehrt. U.a., um dies für mich zu verhindern, übe ich mich seit einem Vierteljahrhundert darin, genügend Abstand von diesem kranken System zu halten, um selber ein möglichst gesundes Leben führen zu können.

Herzlichen Gruß 
Andrea
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RE: Borderline-Geschwister: Umgang mit Wut, Trauer, Verzweiflung? - von AndreaSö - 01.11.2021, 14:27

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