Steffi_F stellt sich vor
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Hallo an Alle,

ich bin auf der Suche nach Selbsthilfegruppen für Geschwister von an Anorexie Erkrankten auf diese Seite und das Forum gestossen und habe  einen Moment grosser Erleichterung darüber erlebt, nicht alleine mit all den widerstreitenden Empfindungen zu sein, die in der Familie, in mir selbst und im "aussen" sind.

Ich bin 52 Jahre alt und habe Jahre damit zugebracht, meine eigenen "Störungen" zu betrachten, zu überdenken, zu fürchten .. und erst jetzt  - in einer akuten Krise - den Impuls gehabt, mit dem Fokus Anorexie, auf das System zu schauen. Wir sind drei Geschwister, ein älterer Bruder lebt im Ausland, meine ein Jahr jüngere Schwester und ich.

Wir hatten durch den frühen Tod unseres Vaters (er starb als ich gerade sechs Jahre alt geworden war, unser Bruder war zehn und unsere Schwester noch vier) und den folgenden Umzug aus dem Ausland zurück nach Deutschland einiges zu verarbeiten. Die Jahre, in denen unsere Mutter getrauert hat und emotional "abgeschaltet" war, haben das für uns Kinder kompliziert. Unsere Mutter war für sicherlich fünf Jahre tief traurig, aber - trotz ihrer emotionalen Unerreichbarkeit - immer auch tätig, praktisch und zukunftsorientiert. Sie hat enorme Energie umgesetzt, um für uns und sich ein geborgenes Zuhause zu schaffen, in dem es an "nichts" fehlt. Gute Ausbildungen zu ermöglichen war für sie selbstverständlich. Für uns Kinder bestand ein hoher Druck perfekt zu sein, ihr nichts weniger als perfekte Kinder zu sein, ihr keinen Kummer zu machen. Das ging schief und im Rückblick finde ich es sehr schade, dass es in den Siebzigern keine bessere Unterstützung für trauernde Menschen und insbesondere Kinder gab, die durch den Verlust eines wichtigen Menschen und die vertraute Lebensumgebung eine Bahn erst wieder finden müssen.

Für unsere Mutter war es selbstverständlich, das System durch Bindung und Verantwortung zu stabilisieren - so hat sie mir unmittelbar nach dem Tod unseres Vaters die Verantwortung für Wohl und Wehe der Schwester übertragen (wörtlich: jetzt bist Du für Deine Schwester verantwortlich), unser Bruder sollte Vaterersatz sein. Das war gut gemeint, aber wir waren hoffnungslos überfordert ... und trotzdem gewillt, die Aufgabe anzunehmen und zu meistern. Der schweigend erlittene Kummer unserer Mutter wenn wir Fehler machten, war kaum zu ertragen. Für unsere Kleinste war die Aufgabe anders. Sie war die Unschuld, sie hat alles immer richtig gemacht. Sie war süß, gut in der Schule und gefällig. Ihre Anorexie hat sich entwickelt als sie dreizehn/vierzehn war, unser Bruder kaum mehr zu Hause und ich ebenfalls mehr weg als da. An der Bruchstelle des Systems. Während ich schreibe, kann ich es sehen.
Für ca. 10 Jahre waren Sorge, Angst und praktische Hilfen zwischen unserer Schwester und Mutter Alles beherrschend, sie haben eine sehr exklusive Beziehung zueinander gelebt und das hat tatsächlich stabilsiert, denn unserer Schwester "hat sich gefangen". Sie hat eine Familie gegründet, drei Kinder bekommen, studiert ... darüber, was die Anorexie von uns Angehörigen gefordert hat, haben wir nie offen gesprochen. Die Anorexie schien überwunden. Alles war gut, solange alle brav, loyal und unterstützend waren. Und alles ist gut, solange die Familie die Dramen mitträgt, die es im Leben der Schwester gibt.

Mir gelingt das nach einem dieser Dramen und einem elementaren Bruch vor 12 Jahren nicht mehr. Meine Schwester ist hochintelligent, hoch sensibel, wahnsinnig analytisch und sehr achtsam. Sie kann ganz allein beurteilen, was richtig und nötig ist - sie ist unantastbar. Sie teilt die Welt in richtig oder falsch, schwarz oder weiß, loyal oder illoyal, Täter oder Opfer ... daran ist kein Zweifel erlaubt und sie schafft Szenarien, denen sich keiner entziehen kann. Die Inszenierung, die zum Bruch zwischen ihr und mir führte, betraf unsere damals halbwüchsigen Kinder. Meine Schwester hat das Szenario mit allen Vertrauten diskutiert - Mutter, Bruder, Schwägerin - und alle zu Stillschweigen mir gegenüber verpflichtet. Denn während sich das Drama aufbaute, war ich - der praktisch-nützliche Idiot der Familie - vollauf damit beschäftigt, meine Schwester und ihre Kinder in der Trennungsphase von Mann und Vater nach Kräften zu unterstützen - da sprach sie lieber nicht mit mir über Dinge, die mich vom Kurs hätten abbringen können. Auseinandersetzungen führt sie nicht, es ist ihr viel lieber, wenn jemand verzweifelt die Nerven verliert. Damals habe ich jedes Vertrauen zu ihr verloren und es hat viele Jahre gebraucht, emotionalen Abstand zu bekommen und mich nicht heillos, hilflos, trostlos zu fühlen. In diesen Jahren war ich im Herkunfts- Familiensystem konsequent isoliert, wurde als Bedrohung geschnitten und gleichzeitig massiv unter Druck gesetzt, meiner Schwester zu verzeihen und wieder "gut" zu sein. Das kann ich nicht. 

Auch nicht, seit unsere Mutter nach einer gesundheitliche Krise Hilfe braucht. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist weitgehend perdu, die komplexen Erfordernisse des Alltags und die Familiengeschichten sind verblasst. Sie braucht Unterstützung und Gesellschaft im Alltag und so haben wir Kinder uns - trotz aller Distanzen - zusammengesetzt um machbare Hilfsoptionen zu besprechen, Pflegegrad zu beantragen, all diese Notwendigkeiten auf den Weg zu bringen. Die Umsetzung medizinischer Hilfe, Renovierungen, Organisation von Betreuung, Begleitung im Alltag, Einkauf, Gärtner, Bank, Urlaub, Frisör und all diese kleinen Alltäglichkeiten sind seit annähernd vier Jahren weitgehend meine Sache - ich wohne keine 400 Meter von unserer Mutter entfernt, es bietet sich an. Natürlich kann unser Bruder nicht ständig in Deutschland sein, aber er kommt so oft er kann. Unsere Schwester ist beruflich und privat stark eingespannt. Sie besuchte unsere Mutter in den letzten Jahren eher sporadisch - seit Ende Oktober gar nicht mehr. So ist das "aussen".

Während sich die praktischen Dinge entrollt haben, läuft im Hintergrund das alte emotionale Drama von Schuld, Angst und innerer Not weiter. Unserem Bruder sagte unsere Schwester, sie hat Angst vor mir und sie denkt, ich wünsche sie in die Hölle. Das hat mit meiner inneren Welt nichts zu tun. Ich begegne ihr an den Schnittstellen der Versorgung unserer Mutter - wenn ich muss. Ich finde mein Vertauen zu ihr nicht wieder. Ich bin nicht lieb - und herzlos, aber ich möchte nicht in eine Beziehung gezwungen werden, die mich völlig auslaugt und mein Hirn und Herz verdreht, in der jeder Begegnung ein Drama folgt und "Rettung" nötig ist. Das ist mir zu viel. Ich komme gerade so damit zurecht, die Veränderung unserer Mutter zu akzeptieren, für sie zu sorgen, voll berufstätig zu sein, Zeit mir meinen Kindern und Freunden zu erleben und gelegentlich Platz für meine eigenen Interessen zu schaffen. Es nervt mich auf ganz praktischer Ebene, dass meine Schwester Absprachen nicht einhält, Übernahme von Aufgaben ablehnt, sich mit mir in den Alltäglichkeiten nicht abwechseln kann. Und der emotionale Eiertanz überfordert mich.

Nun ist meine Schwester in einer tiefen Krise. Sie hatte eine schwere Grippe, konnte nicht mehr schlafen und wollte nichts mehr. Ich vermute, sie hat wieder aufgehört zu essen. Sie hat sich vor einigen Wochen selbst in eine Klinik eingewiesen. Ich bin froh, dass sie das gemacht hat.

Keine Ahnung, ob ich - als Teil eines so tief verstörten Systems - ein "gesundes" Geschwister bin. Es ist schwer für mich so über unsere Familie zu schreiben - und auch während ich schreibe, fühlt es sich wie ein Verrat an. Trotzdem ist es tröstlich, mich mit meinen inneren Zerissenheiten nicht alleine zu fühlen.

Steffi
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Steffi_F stellt sich vor - von Steffi_F - 11.03.2018, 14:31
RE: Steffi_F stellt sich vor - von Reinhard - 11.03.2018, 17:44
RE: Steffi_F stellt sich vor - von Steffi_F - 12.03.2018, 13:20

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