Hilflosigkeit
#1
Liebe Anka und liebe alle,

ich antworte Dir hier mal auf Deinen Beitrag in der "Vorstellungsrunde" und zitiere nochmal Deinen Beitrag von  dort

"Hallo,

ich bin Mitte 50, wohne in der Nähe von Ulm und die große Schwester von vier Brüdern. Meine Mutti und meine Geschwister leben in der Nähe von Dresden, ich bin aus beruflichen Gründen schon 1982 mit meiner eigenen Familie weggezogen. Früher war der Kontakt zu meinen Eltern und Brüdern weit intensiver als in den letzten 10 Jahren. Jetzt rufen wir uns zu den Geburtstagen an, und Besuche finden kaum noch statt. Naja, jeder führt sein eigenes Leben, das ist nun mal so.
Mein "Sorgenbruder" hat im März seinen zweiten Suizidversuch unternommen, im vorigen Jahr war der erste. Beide Male wurde er wieder zurückgeholt. Vor ungefähr drei Jahren begann er mit erhöhtem Alkoholkonsum, was für ihn ziemlich untypisch ist. Er war immer derjenige, der den Fahrer bei Familienfeiern gespielt hat und nüchtern blieb.
Nach den Krankenhausaufenthalten kam er zum Entzug und Therapie in psychiatrische Anstalten. Zurzeit ist er noch krank geschrieben mit einer bakteriellen Infektion aus dem Krankenhaus und befindet sich allein in seinem Haus. Sein Handy hat er abgeschaltet und lässt auch niemand an sich heran.
Ich telefoniere, so oft ich kann, mit meiner Mutti oder meinen anderen Brüdern, aber im Grunde sind wir alle ratlos. Jeder hat ihm schon Hilfe angeboten, auch seine Arbeitskollegen, immer abgelehnt.
Gestern sprach ich lange mit meinem jüngsten Bruder, der immer den engsten Bezug zu unserem "Sorgenbruder" hatte. Er hatte ihn kurz gesehen und hatte den Eindruck, das er wieder Alkohol trinkt.
Jeder aus unserer Familie hat sich schon so manche Nacht mit Sorgen und Grübeleien um den Schlaf gebracht. Aber wir sind am Ende und können nichts tun!
Für mich ist die räumliche Distanz zu meinem "Sorgenbruder" auch ein Problem, im März habe ich ihn auf der Intensivstation besucht,da lag er noch im künstlichen Koma und Ende Mai in der REHA Klinik. Dort machte er auf mich noch einen einigermaßen guten Eindruck.
Nun sieht die Sache wieder anders aus....
Vielleicht sind wir ihm auf die Nerven gegangen und haben ihn zu sehr bedrängt? Meine Mutti kommt mit der Situation auch nicht klar,jeder zweite Satz von ihr "Ich möchte ihm helfen und weiß nicht wie."
Wir Geschwister versuchen zusammenzuhalten, entfernen uns aber immer mehr voneinander, auch Schuldzuweisungen haben die Runde gemacht. Alles nicht so einfach und wir haben im Hinterkopf die unheilvolle Ahnung, wie diese Situation enden wird."

Bei meinem Bruder ist es so, dass er mehr so einen "Selbstmord auf Raten" macht - jedenfalls wirkte das auf mich so, als er beschlossen hat, auf der Straße zu leben. Mittlerweile bin ich nicht mehr so geschockt davon... aber die Hilflosigkeit und die "unheilvolle Ahnung", wie Du es nennst, sind geblieben.

Ich hab mich beim Lesen gefragt, ob das nicht was Typisches ist: Alle anderen aus der Familie fühlen sich hilflos (und sind es ja auch). Und niemand kann das gut aushalten und daraus entstehen Schuldzuweisungen oder zumindest Konflikte auch unter den anderen Familienmitgliedern. Ich kenne das jedenfalls, dass die ganze Familiendynamik "in Wallung" gerät, sobald es mit meinem Bruder wieder "akuter" wird. Und eigentlich wird es dadurch ja nur noch schwerer.

Gibt es Familien, die es dann schaffen, zusammenzuhalten... und sich nicht voneinander entfernen?
Und wie kann da ein guter Umgang eigentlich mit aussehen?

Ich weiß nicht, wie hilfreich das jetzt für Dich ist, aber das sind so meine Gedanken dazu, im Zusammenhang mit meiner eigenen Situation.

Hmm, ansonsten frage ich mich, wie Dein Bruder zu den Hilfenageboten steht - immerhin war er ja in der Psychiatrie und in einer Reha. Vielleicht wäre eine Tagesstätte hilfreich für ihn? Kennst Du das? ...dafür müsste er aber wahrscheinlich aufgehören zu trinken...und Hilfe annehmen...

Wie gehst Du mit alledem um?
Wie gehen andere damit um, nicht helfen zu können oder wenn die Hilfeangebote abgewiesen werden?

Liebe Grüße,
Hannah
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#2
Liebe Anka,
auch ich möchte versuchen, Dir zu antworten.
Was mir noch durch den Kopf geht: Du schreibst von den nachvollziehbaren Problemen in Deiner Familie unter den sehr schwierigen Bedingungen.
Ich frage mich, wo Du die Rolle des Hilfesystems siehst, bzw. wo Deine Familie "vor Ort" das sieht, und ob und was bisher eingeleitet wurde und welche Informationen insbesondere Deine Mutter im Zusammenhang mit Deinem Bruder bekommen hast.
Vielleicht kannst Du dazu noch etwas schreiben, bevor ich dazu im luftleeren Raum weiter denke?
Liebe Grüße
Reinhard
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#3
Danke für die schnellen Antworten,

und danke liebe Hannah für Deine persönliche Geschichte. Ich mußte mich zum schreiben meines Beitrages ganz schön überwinden. Außerhalb der Familie spreche ich mit niemand darüber. Nun bin ich erleichtert, das ich hier auf Menschen bzw. Geschwister treffe, die ebenso "gebeutelt" sind wie ich.
Mein Bruder lehnt jedes Hilfeangebot ab. Im vergangenem Jahr nach seiner Genesung bot ich ihm an, mit uns zum Badeurlaub in den Süden zu fahren. Meine erwachsene Tochter, mit der er sich immer gut verstanden hat, war auch dabei. Nein, unser Urlaubsziel gefiel ihm angeblich nicht. Enttäuschend, obwohl er seit Jahren keinen richtigen Urlaub mehr gemacht hat.


Lieber Reinhard

danke für Deine Antwort und Deine Fragen, die ich wahrscheinlich gar nicht so präzise beantworten kann. Da ich die meisten Berichte auch nur über meine Mutti und meine Brüder erhalte.
Meine Mutti ist mit Ende 70 nicht mehr die gesündeste und kämpft unter anderen seit einiger Zeit mit Herzproblemen. Deshalb meinten zwei meiner Brüder vor Ort, sie aus allem, so gut es geht, heraus zu halten. Sie wurde auch erst mit in die Intensivstation genommen, als mein "Sorgenbruder" aus dem künstlichem Koma erwacht war und die lebenserhaltenden Maschinen teilweise ausgeschaltet waren.
Trotzdem ist sie ziemlich durcheinander und ich weiß bei Telefonaten mit ihr nie, ob sie sich Sachen nur so zusammenreimt.
Eine Kur täte meiner Mutti ganz gut.
Die Rolle des Hilfesystems sieht ganz gut aus, meines Bruders Arbeitgeber zeigt sich offen und lud ihn zum Personalgespräch zwecks neuer Tätigkeit ein. Er verschob das Gespräch wegen seiner Quarantäne.
Seine Therapeutin meinte, er müsse sich selbst ein Ziel setzen und darauf hin arbeiten.
Und genau da liegt das Problem!
Ich habe den Eindruck, ihm ist alles zuviel, er kann nicht mehr und ein Ziel ist nicht in Sicht.
Und ob er sich bei seinem Arbeitgeber meldet oder an weiteren Therapien teilnimmt, ist fraglich.
Mir hat er bei meinem letzten Besuch Ende Mai noch erzählt, was er in Haus und Garten alles machen will, aber diese Geschichte habe ich im vorigen Jahr schon von ihm gehört. Alles nur Floskeln, um in Ruhe gelassen zu werden. Ich fühle mich "veräppelt".
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#4
Hallo,
ohne die Therapeutin zu kennen eine kurze Anmerkung.
Sicher ist es völlig richtig, dass Dein Bruder sich selbst Ziele setzen und die angehen sollte - nur wenn er das nicht tut (vielleicht weil er es nicht kann?) ist das ein gutgemeinter, aber handlungsfreier Rat. Es wäre wichtig zu wissen, ob er sich "dem Ziel, sich ein Ziel zu setzen" in der Therapie nähert, oder nicht.
Nach meinen Erfahrungen (nun als professioneller Helfer in der Gemeindepsychiatrie) war es immer wichtig, neben der Psychotherapie (ich unterstelle hier, das die von Dir angesprochene Therapie so eine ist?) jemandem mit im Boot zu haben, der den Blick auf die Bewältigung des Alltags richtet: Was macht er in Richtung auf seinen Arbeitsplatz? Wie gestaltet er seinen Alltag? Benötigt er dabei Unterstützung - oder nicht? Oder sporadisch? etc. ...
Es wäre an Deinen Mitgeschwistern, die in der Nähe leben, so etwas in die Wege zu leiten - wenn es nicht bereits von der Therapeutin oder einem behandelnden Arzt gemacht wurde. Der einfachste Zugang ist immer über den Psychosozialen Dienst der Kommune, in der Regel angegliedert an das Gesundheitsamt.
Liebe Grüße
Reinhard
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#5
Liebe Anka,
nachdem mir Deine Beiträge hier im Forum noch einige Zeit durch den Kopf gegangen sind frage ich mich: treffen meine Antworten, die vor allem auf das Versorgungssystem gerichtet sind und von der Überlegung getragen werden, wie die Hilfen ggf. besser gestaltet werden könnten, überhaupt Dein eigentliches Anliegen?
Vielleicht steht für Dich die emotionale Bewältigung der gesamten Situation im Vordergrund, was gut nachvollziehbar ist?
Liebe Grüße
Reinhard
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#6
ich weiss, der beitrag hier ist schon älter, aber vllt kann ich ein wenig was zum entstressen beitragen @hannah

Hannah schrieb: Bei meinem Bruder ist es so, dass er mehr so einen "Selbstmord auf Raten" macht - jedenfalls wirkte das auf mich so, als er beschlossen hat, auf der Straße zu leben.

ich habe viele jahre mit obdachlosen gerarbeitet und auch wenn es viele gibt, die das ändern möchten, gibt es eben so viele für die das leben so am lebbaresten ist.
es ist ihrem tempo, ihrem denken und ihren kapazitäten angepasst und meist sind sie ganz schnell wieder dort, selbst wenn man ihnen wohnung und regelmäßiges essen und einkommen "verpasst". ich sage mit absicht verpasst, denn die für die dieses leben passend ist empfinden es als aufgezwungene art so leben zu müssen und nicht als etwas was sie selbst so leben wollen/können.
für mich war das lange zeit sehr schwer zu akzeptieren. wie kann man so leben wollen ?
aber nachdem ich oft und lange mit vielen gesprochen habe, habe ich ihr denken und fühlen und damit auch das handeln verstanden. für mich persönlich wäre es immer noch keine wahlmöglichkeit, aber um mich geht es dabei ja auch nicht.

das ist auch der springende punkt.
so lange es seine wahl ist und er das so möchte, ist es genauso auch ok.
es ist schwer von seinen eigenen vorstellungen von leben wegzutreten und sie nicht als maßstab anzulegen (mein bruder ist messie und braucht das auch ein stück weit), aber andersherum würden wir auch nicht anders leben als wir es tun, nur weil irgendein eskimo uns erzählt man muss in einem iglu leben und fischaugen sind eine delikatesse.
es ist schwer wenn es in der eigenen familie erlebt wird, aber es ist nur umso schwerer so lange man sich selbst in der wertung belässt und der eigene maßstab von minimum an die bedürfnisse und möglichkeiten anderer anlegt.

die gemeinschaft der menschen die auf der strasse leben und deren art füreinander und miteinander zu sein ist unglaublich und wesentlich umfangreicher als viele glauben.

vllt könnt ihr ja mal in eine teestube oder einen streetworkerbus reinschnuppern und selbst feststellen, dass er nicht ganz so verloren, einsam und unbeachtet ist, wie man das als "normallebender" von diesem lebensstil glaubt.

nur als idee und info, vllt hilft es ja. [Bild: https://forum.geschwisternetzwerk.de/ima.../smile.png]
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#7
Liebe Diana,

danke für die tröstenden Worte und dass Du das Leben auf der Straße aus einer anderen Perspektive geschildert hast.

Von meinem Bruder weiß ich nur, dass er Anfangs bei all den vorhandenen Anlaufstellen war, um sie dann nach den ersten Besuchen für sich als mögliche Anlaufstellen kategorisch auszuschliessen, aus Gründen, ich sage mal, der psychotischen Verarbeitung der Realität. Ich weiß weiter, dass er sich von anderen Obdachlosen fern hält, warum auch immer, vielleicht ist ihm selbst die Gemeinschaft auf der Straße mit zu viel Nähe verbunden. Und ich mache mir Sorgen, dass er krankheitsbedingt kein "gesundes" Kälteempfinden hat (im Winter mit Sandalen und so), und er einfach irgendeinen Winter nicht mehr überlebt. Dazu kommt, dass er zeitweise psychotisch ist, d.h. aggressiv ist und herumschreit, was im besten Fall zu Polizeieinsätzen führt, die ihn für eine Nacht in die Psychiatrie bringen, im schlechteren Fall aber durchaus ja zu gewalttätigen Konflikten führen kann - auch, oder gerade auf der Strasse. 

Andererseits - er lebt mittlerweile einige Jahre auf der Strasse und das bedeutet ja, dass er irgendwelche Wege gefunden haben muss, dort zurecht zu kommen. Vielleicht nutzt er mittlerweile auch die Anlaufstellen, das weiß ich nicht. Mit Sicherheit ist er trotzdem auf irgendeine Weise eingebunden im Sinne von "man sieht sich und man kennt sich", da hast Du ganz bestimmt recht.

Ich überlege gerade: Ja, eigentlich bin ich damit so weit ausgesöhnt, wie man da ausgesöhnt sein kann. Aber die Sorge bleibt. Und die Ungewissheit bleibt. Und ich glaube, was ich begriffen habe, ist, dass zu jedem Zeitpunkt eine "Steigerungsform" der Erkrankung oder der ohnehin unvorstellbar besch... Situation möglich ist. Es kann immer noch schlimmer kommen, auch wenn ich es mir jetzt nicht vorstellen kann, und es wird mir auch das nächste Mal den Boden unter den Füßen wegreißen (können). In diesem Sinne bleibt auch die Sorge um mich selbst und ich muss eigentlich hoffen, dass es möglichst lange so bleibt, wie es gerade ist - und eben nicht schlechter wird. Und die jetzt "ruhige Zeit" nutzen, möglichst viele schöne Dinge im eigenen Leben zu genießen und weiter anzuleihern [Bild: https://forum.geschwisternetzwerk.de/ima.../smile.png].

Nochmal Danke für Deinen Beitrag - habe ihn zum Anlass genommen, innerlich mal eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Liebe Grüße,
Hannah
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