Borderline-Geschwister: Umgang mit Wut, Trauer, Verzweiflung?
#1
Hallo an alle Geschwister da draußen,

Ich habe zwei Schwestern (27, 22) mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Depression.
Vor 12 Jahren kam bei der älteren die Diagnose, bei der jüngeren vor 3. Seit ich 12 Jahre alt war befinde ich mich in einem Karussell aus Angst, Trauer, tiefer Wut, Hoffnung und Enttäuschung. Immer, wenn es bergauf zu gehen scheint und man ein wenig aufatmen kann, in der Hoffnung, dass sie doch die Ausbildung beenden, sich doch mal in einer Stadt wohl fühlen und ein Umfeld aufbauen können, kommt der Absturz. Die Leute seien gemein, würden sie ausschließen, die Ausbildung sei nun plötzlich doch super uninteressant und müsse sofort beendet werden und die Stadt sei sowieso hässlich.
Dann wird geflüchtet, und es beginnt erneut.

Ich habe Angst um beide und mache mir ständig Sorgen um deren Zukunft. Ich wünsche mir nichts mehr für beide, dass sie innere Ruhe, Frieden und Gesundheit finden und das Leben führen, das sie verdienen.
Ich verstehe, dass sie oft nicht anders können, da sie krank sind und die Umwelt anders wahrnehmen und extremer fühlen. Aber das reicht oft nicht aus, um meine Wut und den Frust davon abzuhalten, mich innerlich zu zerfressen.
So oft sehe ich mir an, wie sie alles und jeden für ihre Probleme schuldig sprechen, nur nicht sich selbst und fange an, beide so sehr zu hassen. Dann breche ich den Kontakt für Monate ab, um ihn am Ende wieder aufzunehmen, weil ich sie vermisse und wissen will, wie es ihnen geht.

Richtig wütend werde ich, wenn sie unsere Eltern beschuldigen, an ihren psychischen Problemen schuld zu sein. Klar sind sie nicht perfekt, aber sie haben immer ihr Bestes gegeben und lieben uns bedingungslos. NIE wurden wir unter Druck gesetzt, in eine bestimmte Richtung gedrängt, nicht respektiert, geschlagen, nicht versorgt, nicht geliebt und nicht unterstützt. Sie waren und sind immer für uns da, egal was ist. Meine Schwestern erfinden manchmal Traumata, wo keine sind und dafür empfinde ich so viel Abscheu, ich könnte um mich schlagen.

Ich wünsche mir so sehr eine gesunde Beziehung zu meinen Schwestern, aber unter diesen Umständen kann ich einfach keine führen. Dann fühle ich mich so schuldig, weil sie mich als Unterstützung brauchen und ich mich aber distanziere. Aber über die Zeit gab es so viele dramatische Szenen, die ich leider kaum vergessen kann. Es fällt mir so schwer zu unterscheiden, wann sich die Krankheit zeigt und wann sie vielleicht einfach gemeine Kühe sind.

Wie kann ich mit diesen heftigen Gefühlen umgehen? Wie schafft man es, dass man nicht in diesen extremen Gefühlskreislauf gerät und am Ende seine Geschwister für etwas hasst, für das sie nur bedingt etwas können?

Ich danke euch fürs Lesen Heart 
Sharon
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#2
Hallo Sharon,
die Situation wie du sie beschreibst kenne ich auch. 
Vor allem diese Zerrissenheit zwischen Liebe, Hass, Trauer, Erwartung, Hoffnung, Resignation, Reue, Mitgefühl und wieder und manchmal auch durcheinander und andersherum von vorne...
Ich habe gelernt, dass es für mich am wichtigsten ist, dass ich auf mich selbst und mein Wohlbefinden achte.
Immer wenn ich versucht habe zu helfen und jemanden in unserer Familie zu unterstützen, wenn ich gerade nicht stark war, sondern eigentlich selbst Hilfe brauchte, da war war ich dann für niemanden eine Hilfe, vor allem nicht für mich selbst.

Bei mir ist es auch so, dass ich meine Eltern und meine Schwester liebe und ich da immer wieder in Konflikt mit mir selbst und auch mit meiner Schwester geriet. Wenn meine Schwester mir dann aber dafür Vorwürfe machte war sie nicht sie selbst bzw nicht die die ich kenne und liebe. Das ist ihre Krankheit. Eine Krankheit, die ich als ihr Bruder nicht heilen kann, ja leider nicht einmal verbessern kann. Aber ich kann für sie da sein und sie unterstützen, wenn sie es zulässt. 

Bei uns sind es nun mehr als 18 Jahre die wir mit der Krankheit leben und manchmal mehr manchmal weniger gut meistern. Trotz ihrer Krankheit hat meine Schwester den Weg gewählt sich räumlich weiter weg zu begeben, auch mit vielen Ortswechseln, sodass wir nicht täglich einen Weg finden müssen, miteinander umzugehen, aber es vergeht kein Tag ohne Gedanken an sie, die Situation und die dauernde Frage danach was ich noch tun könnte, um ihr zu helfen glücklich zu leben. Leider ist das gar nicht so viel und vielleicht doch wertvoll, das hoffe ich zumindest. 

Ich habe gelernt damit umzugehen, nicht immer, aber den größten Teil meiner Zeit. Mir hilft es wenn ich denke, dass es eine Krankheit ist wofür niemand etwas kann und die schon immer da gewesen ist. Meine Schwester und auch sonst niemand kann etwas dafür wie es ist. Wir können, jeder für sich, nur versuchen möglichst gut damit zu leben. 

Es gibt solche und solche Tage, manche sind besser, manche schlechter. Aber es vergeht kein Tag ohne den Gedanken an sie und dass ich sie tief in meinem Herzen liebe, so wie meine gesamte Familie. Ich versuche so gut es geht auf mich selbst zu achten und dann wenn mir noch Kraft bleibt auf die anderen. Vielleicht könnte das auch für dich ein Weg sein um aus dem negativen Gefühlskreislauf zu entfliehen. Es ist nicht einfach und es wird nie einfach. Ich wünsche dir, dass du vor allem für dich und auch für deine Familie einen starken und glücklichen Weg finden wirst.
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#3
Hallo Sharon,

meine Schwester ist zwar nicht diagnostiziert, aber dieser Wirbelsturm aus Gefühlen kommt mir sehr bekannt vor.
Meine Familie und ich hatten in den letzten Jahren auch einige Erlebnisse. Zwischenzeitlich hatte ich über mehrere Jahre einen vollständigen Kontaktabbruch zu meiner Schwester und habe mich auch selbst in Therapie begeben um damit umgehen zu können. Mittlerweile gibt es wieder regelmäßigen Kontakt und ich fühle mich manchmal wie im Schleudergang in der Waschmaschine. Mir fällt es schwer mit den heftigen Emotionen meiner Schwester umzugehen. Die ständigen Stimmungswechsel strengen mich einfach ungemein an. Bezüglich der "Schuld" unserer Eltern versuche ich neutral zu bleiben. Ich denke meine Erlebnisse müssen nicht dem entsprechen wie meine Schwester es erlebt hat. Dennoch denke ich es ist wichtiger an seinem Verhalten zu arbeiten als ewig einen Schuldigen für seine eigene "Misere" zu suchen.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich denke das mein Leben vor der Wiederaufnahme des Kontaktes viel ruhiger war. Ich hatte auch viel mehr Unterstützung von meinen Eltern. Mittlerweile geht deren Zeit eigentlich zu 100% dafür drauf, dass meine Schwester "in der Spur läuft". Ich kann auch nur selten etwas mit meiner Mutter alleine machen, weil meine Schwester sich sehr schnell ausgegrenzt fühlt und dann jedem Vorwürfe macht. (Inwiefern das unter Geschwistern normal ist kann ich nicht sagen, ich kenne es nicht anders, aber ich denke als Erwachsene sollte man nicht mehr um die Aufmerksamkeit der Mutter konkurrieren). Wie gesagt finde ich das Miteinander im Moment sehr anstrengend. Meine Schwester möchte für fast alles die Verantwortung abgeben und erwartet dann, dass es trotzdem genau so läuft wie sie es sich vorstellt. Bekommt sie Kontra bekommt sie als erwachsene Frau tatsächliche "Tobsuchtsanfälle" schreit rum (auch in der Öffentlichkeit) und möchte unbedingt ihren Willen durchsetzen, weshalb sich eigentlich auch fast keiner mehr traut etwas zu sagen. Ich weiß nicht, wo das alles hinführen soll. Ich würde mir einfach wünschen, dass sie endlich "erwachsen" wird. Damit meine ich vlt. das sie Verantwortung für sich und ihr tun übernimmt, endlich selbstständig wird. Ich habe einfach keine Lust mehr immer Rücksicht zu nehmen, zurück zu stecken und vor allem geht es mir total auf die Nerven, dass ich mich nach einem Konflikt noch tagelang aufrege und meine Schwester nach ein Paar Stunden einfach wieder auf normal schaltet und weiter ihr Ding macht.
Ich habe dieses Forum eigentlich deshalb gesucht, weil ich mir manchmal unsicher bin, ob ich mich richtig reflektiere. In meiner Familie gibt es, wie bei vielen hier, eine lange Vorgeschichte an psychischen Besonderheiten und manche Dinge erscheinen mir deshalb normal, obwohl sie es gar nicht sind. Anderstrum weiß ich manchmal nicht, ob bei mir nicht doch noch so ein gewisses Maß an "Geschwisterneid" einfließt, auch wenn ich eigentlich denke das ich dafür schon zu alt bin. Ich würde mich deshalb freuen mehr über dieses Thema hier zu hören und evtl. auch eure Meinung zu meinen Reaktionen.
LG
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#4
Hallo,

auch wenn Dein Beitrag schon etwas her ist, fühle ich sehr, was du schreibst. Es geht mir genauso und ich versuche mich ständig emotional zu distanzieren. Sie schafft es auch immer, dass sie mich triggert und mich so unheimlich wütend mache, sodass ich mich selbst kaum im Zaum halten kann und Dinge sage/schreibe, die ich besser für mich behalten sollte. Aber auch das ist wieder mit der Frage "Warum?" verbunden.
Warum soll ich meine Gefühle zurückhalten, um sie nicht zu verletzen?
Warum soll ich nur Rücksicht nehmen und sie kann ohne wenn und aber walten, wie ihr beliebt?
Warum muss ich mir Gedanken machen, welche Auswirkungen meine Worte auf sie haben und mich mit den Gedanken quälen, ob sie sich jetzt wieder einmal etwas antut?
Ich hasse es, dass ihre Krankheit immer als Ausrede benutzt wird."Du weißt doch, ihre Krankheit", "Das ist eben so, sie kann nichts dafür". Ja, das mag sein, aber ich sehe auch nicht, dass sie daran arbeitet, um es zu verbessern. Therapien bricht sie ab und aus Klinken entlässt sie sich, sobald es "schwierig" wird und sie sich mit sich selbst auseinandersetzen muss. Wie kann man da als Schwester keine Wut empfinden?

Ich versuche mich zu distanzieren, versuche mir vorzustellen, dass sie nicht meine Schwester ist, sondern jemanden, den ich kenne. Das macht es bedingt leichter.
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#5
Hallo mar.tar,

dass Dein Beitrag schon älter ist weiß ich. Antworten möchte ich Dir "mal trotzdem"  Tongue, weil Deine Frage derjenigen, wegen der ich in dieses Forum gekommen bin, sehr ähnlich ist.

Vorab die Information, dass ich inzwischen 47 Jahre alt bin, mein Bruder ist 45.

Er ist mit 19 Jahren an Schizophrenie erkrankt. Zu dem Zeitpunkt war die Erziehung hin zu einem Mindestmaß an Benehmen, Rücksichtnahme und Selbstständigkeit bei den meisten Gleichaltrigen schon weitestgehend abgeschlossen. Es gibt, auf Seiten meiner Eltern, diesbezüglich ein großes Versäumnis - insofern ich, im Gegensatz zu Dir, die Schuld bei meinen Eltern suche. (Die krasseste Aussage aus seinem - mehr oder weniger - professionellen Netzwerk war in diesem Zusammenhang, dass mein Bruder wohlmöglich keine betreute Wohneinrichtung bräuchte, wäre seine Erziehung anders verlaufen.)

Da ich unter seinem großen Mangel an Rücksichtnahme und Benehmen gerade in der Zeit, in der wir in meinem Elternhaus zusammen aufgewachsen sind, stark gelitten habe, triggert mich gerade dieses Verhalten noch heute besonders. 
Du fragtest Dich, warum Du Deine Gefühle zurückhalten und Rücksicht nehmen sollst, während Deine Schwester tut und lässt, was sie will. Zu genau diesem Verhalten bin ich erzogen worden, was sehr ungerecht war.

Auf der einen Seite sehe ich den Einfluss seiner Erziehung, auf der anderen frage ich mich, inwieweit die Ursache des fehlenden Blicks für seine Mitmenschen und die Selbstvernachlässigung in seiner Krankheit liegt und ob bestimmte schlechte Angewohnheit aus dem jahrzehntelangen Leben mit ihr resultieren. - Womit wir bei der Frage wären, die auch Du Dir stelltest.

So sieht mein Bruder meine Bedürfnisse nicht. Z.B. hat er mich, während meines Krankenhausaufenthaltes nach einer Bandscheiben-OP, nicht ein einziges Mal angerufen. Er lebt in einer betreuten Wohngruppe, das Anwählen von Handynummern ist aus den Bewohnerzimmern gesperrt. Er hätte im Mitarbeiterbüro um ein Telefonat bitten müssen. Einen Besuch habe ich nicht erwartet. Wir wohnen weiter auseinander, ein solcher hätte ihn überfordert. Um ein Telefonat hätte er sich in meinen Augen bemühen können.

Auch hat er eine, in meinen Augen blöde, Reaktion nach dem Sturz meiner damals 83jährige Mutter an den Tag gelegt. Sie hatte nach dem Unfall über 24h auf ihrem Teppich gelegen. Mein Bruder und ich haben uns anschließend getroffen und ich habe ihm davon erzählt, dass mir vor den Reinigungsarbeiten graut. Er hat mich daraufhin gefragt, ob er mir helfen soll. Dieses habe ich ihm freigestellt (Hilfeleistungen sind in meinen Augen freiwillig. Es hätte sich für mich falsch angefühlt sie einzufordern.), woraufhin mein Bruder nur kurz sagte "Dann fahre ich gleich wieder in die Wohneinrichtung." - und weg war er.

Er hat kaum Benehmen, setzt sich z.B. oben ohne an den Frühstückstisch und nimmt z.T. so große Bissen in den Mund, dass das Essen vorne heraus kommt.

Und dann reicht meine Geduld nicht für seine grenzenlose Unselbstständigkeit. Er lässt seine Kleidung so verdreht, wie er sie nach dem Ausziehen in der Hand hält, überall liegen. 
Ohne detaillierte Anleitung geht, bis auf Tabletteneinnahme, eigentlich gar nichts:
  • kein Trockenlegen des Badezimmers mach dem Duschen;
  • keine gründliche Rasur (Diese übernimmt nach wie vor meine inzwischen 87 Jahre alte Mutter, wenn er bei ihr ist - wie sie ihm generell ins Bad folgt, um Anleitungen zu geben.);
  • kein Überziehen des Bettes;
  • keine Planung der vorbereitenden Aufgaben für ein Verlassen des Hauses zu einem bestimmten Zeitpunkt;
  • kein Decken des Frühstückstisches usw., usw., usw. 

Kritik an der Beziehungsqualität zwischen meiner Mutter und meinem Bruder und an seinem Verhalten habe ich schon sehr oft geübt. Zum einen aus gesundem Selbstschutz, zum anderen aus Sorge um meinen Bruder, der systematisch in eine Lebensunfähigkeit gedrängt worden ist. 

Sei Anfang des Jahres übernehme ich verstärkt Verantwortung für meine inzwischen 87jährige Mutter. Ich habe für Mutter und Bruder eine Generalvollmacht und tätige ihre Rechtsgeschäfte, die gerade für meine Mutter umfangreicher sind. 

Gott sei Dank habe ich mittlerweile ein grundlegendes Bewusstsein dafür, dass wir, in gleichem Maße wie unsere Angehörigen,ein Recht auf Selbstschutz und ein möglichst glückliches Leben haben.

In der letzten Zeit frage ich mich immer häufiger, inwieweit es für meine Reaktionen überhaupt ausschlaggebend ist, welche Ursachen das kranke Verhalten meines Bruders und die ebenso kranke Symbiose zwischen Mutter und Sohn hat. Es ist existent und es liegt an mir zu entscheiden, inwieweit ich mich dessen aussetzen möchte. 

Kennst Du die Metapher von den Folgen, legt man einen gesunden und einen kranken Apfel nebeneinander? Es heißt, dass dann der gesunde Apfel krank wird, nicht umgekehrt. U.a., um dies für mich zu verhindern, übe ich mich seit einem Vierteljahrhundert darin, genügend Abstand von diesem kranken System zu halten, um selber ein möglichst gesundes Leben führen zu können.

Herzlichen Gruß 
Andrea
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